Wenn die Bevölkerung die Außenpolitik diktiert...

 ■  Aus Potsdam J.Gottschlich

„Wir brauchen unbedingt mehr Zeit.“ „Ein überstürztes Vorgehen kann nur im Chaos enden.“ „Die vordringliche Aufgabe deutscher Politiker wäre es jetzt, die Emotionen der Massen einzudämmen oder zumindestens zu kanalisieren. Daß diese Aufgabe nicht wahrgenommen wird, ist ein fatales Versäumnis deutscher Politik.“

Die Stimmung unter den Sicherheits- und Wirtschaftsfachleuten aus west- und osteuropäischen Ländern, die das Ostberliner Institut für Wirtschaft und Internationale Politik (IPW) gemeinsam mit dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI nach Potsdam geladen hatte, schwankte zwischen Aufgeregtheit und Fatalismus. Vor allem die außen- und sicherheitspolitischen Strategen sehen sich in doppelter Weise mit einer für sie neuen Situation konfrontiert: Nicht nur, daß die in den letzten vierzig Jahren gültigen Konstellationen sich auflösen und den Vordenkern damit ein bislang ungekanntes Maß an Phantasie abverlangen, macht ihnen zu schaffen. Weit unangenehmer ist, daß die Bedingungen für den Wandel derzeit nicht mehr in den Staatskanzleien sondern auf den straßen Osteuropas gesetzt werden. Der Einbruch der Straße in das Refugium der Außenpolitik, oder konkreter, die 2.000 bis 3.000 DDRler die täglich in die BRD übersiedeln, sind es, die derzeit die Bedingungen europäischer Politik diktieren.

Viele Fragen und keine Antworten. Alle wollen die mittlerweile beschlossene KSZE-Konferenz Mitte dieses Jahres, aber was soll dabei herauskommen: Ein kollektives Sicherheitssystem für Europa unter Einschluß der USA? Ist die Sowjetunion dabei oder nicht? Sollen die amerikanischen Truppen abgezogen werden, oder was ist die absolute Präsenzuntergrenze der USA für ein Minimum an Stabilität in Europa?

Bislang wurde der KSZE-Prozeß, wie ein Teilnehmer aus den USA selbstkritisch anmerkte, ja nur als Propaganda-Plattform gegen den Warschauer Pakt benutzt. Kann daraus nun plötzlich ein Forum werden, in dessen Rahmen eine verbindliche Neuordnung Europas geregelt werden kann? Ein Mitterrand -Berater versuchte sich an inhaltlichen Vorgaben aus französischer Sicht:

1. Die USA dürfen nicht aus Europa herausgedrängt werden.

2. Es darf kein „Versaille“ für die UdSSR geben. Ein Neuordnung Europas muß so gestaltet werden, daß die Sowjetunion überzeugt ist, ihre Interessen gewahrt zu haben.

3. Die legitimen Rechte der Deutschen auf eine Vereinigung wird anerkannt, aber im Gegenzug müssen die Deutschen ein europäisches Containment akzeptieren. Denn, „wenn man den Deutschen mehr Macht gibt, weiß man nicht, was sie damit machen“.

Unausgesprochen zog sich der Vorwurf, die deutsche Außenpolitik sei nicht mehr berechenbar, als roter Faden durch den gesamten Kongreß, thematisiert wurde er jedoch nur einmal vom diplomatischen Korrespondenten der 'Zeit‘, Christoph Betram. „Die deutschen Politiker“, so Betram, „entziehen sich der Pflicht, den deutschen Einigungsprozeß zu verlangsamen und steuerbar zu machen. Das können aber nur die Deutschen selbst tun, weil eine Intervention der Alliierten nach hinten losginge und hierzulande nur den Nationalismus anheizen würde. Im wohlverstandenen Eigeninteresse und nicht nur mit dem Hinweis auf die 'Sorgen unserer Nachbarn‘, müßten die Deutschen darüber hinaus auf einen nationalen Souveränitätsverzicht zugunsten der europäischen Integration drängen, da die Verankerung Deutschlands in Europa nach wie vor nicht selbstverständlich ist.“ Beides aber fehlt in der deutschen Politik, mit möglicherweise „fatalen Folgen“.

Den Gegenpart zu den eher pessimistischen Prognosen übernahm in Potsdam Kurt Biedenkopf. Für den CDU-Professor ist die Übermacht der Deutschen nach einem Zusammenschluß eine Fiktion, die Ängste in Europa folglich ein Ergebnis einer unzulänglichen Analyse. Selbst wenn das Vertrauen in die demokratische deutsche Grundordnung nicht vorhanden sei, für Biedenkopf sprechen bereits die Fakten gegen die Großmacht Deutschland. Um diese These zu belegen machte der Professor einige Rechenexempel auf. Nach der klassischen These, Macht gleich Fläche plus Bevölkerung, könne man bereits leicht ersehen, daß Deutschland selbst wenn es wollte nicht mehr eine Rolle wie vor dem Zweiten Weltkrieg spielen könnte. Flächenmäßig käme ein vereinigtes Deutschland in Europa erst an 5. Stelle, zum zweiten hätten sich die Bevölkerungsrelationen gegenüber dem Anfang des Jahrhunderts völlig verändert. In zehn Jahren sei die Bevölkerung von Frankreich und Deutschland annähernd gleich groß. Dazu käme die demographische Entwicklung. Die deutsche Bevölkerung sei völlig überaltert und gehe stetig zurück. Ein vergreisendes Volk, so Biedenkopfs Analyse, könne aber gar nicht aggressiv sein. Auch der ökonomische Zuwachs durch den Anschluß der DDR sei im europäischen Rahmen eine zu vernachlässigende Größe. Das Wirtschaftspotential der DDR entspräche höchstens dem des Bundeslandes Hessen.

Wem das als Begründung immer noch nicht reichte, hielt Biedenkopf die föderale Struktur der Bundesrepublik entgegen. Der Existenz fünf konkurrierender industrieller Ballungszentren verdanke die BRD ihren Reichtum. Die Zeit von 1871 bis 1945 werde deshalb als mißlungene zentralistische Episode in die Geschichte eingehen und das föderative deutsche System zum Schrittmacher in Europa. Als in der konsternierten Runde jemand fragte, warum diese Analyse in den europäischen Nachbarländern eigentlich keine Rolle spiele, konnte Biedenkopf nur mit den Schultern zucken: Die hätten eben noch nicht richtig nachgedacht.