: ERWIDERUNG
■ Gegen eine mißverstandene „Philosophie“
Vielleicht ist in diesem einen, besonderen Fall die deutsche Öffentlichkeit tatsächlich sensibler als die angelsächsische. Vielleicht sind die Menschen lernfähiger, als wir erwartet haben.
Natürlich ist zunächst schockierend das Mittel: universitäre Veranstaltungen werden gestört. Und natürlich muß die Frage gestellt werden: zu welchem heiligen Zweck? Aus welchen Gründen darf oder muß eine Debatte gestört werden mit Mitteln, die vom aufgeklärten Diskurs der rationalen Argumente abweichen, gibt es einen inhaltlichen Konsens, dessen Bewahrung wichtiger sein könnte als der formale Konsens der Kommunikation, an dessen unhinterfragbaren Status wir uns gewöhnt haben?
Den gibt es tatsächlich, ohnehin. Die Öffentlichkeit und die Universitäten lassen eine Debatte über die Minderwertigkeit bestimmter menschlicher Rassen nicht mehr zu, ebensowenig, wie sie auf den Gedanken kämen, Ideologen des Nationalsozialismus in Hauptseminaren zu diskutieren. Es wird also unterschieden zwischen diskutierbaren, wenn auch vom öffentlichen Konsens abweichenden Theorien und gänzlich indiskutablen Ideologien, täglich und in der Regel unhinterfragt. Die Philosophen als Berufsgruppe haben ihre Eignung für eine solche Unterscheidung zur rechten Zeit in der deutschen Geschichte nicht glaubhafter unter Beweis gestellt als Richter, Pfarrer, Elektroingenieure. Warum also sollte die Gesellschaft sich ihnen jetzt anvertrauen?
In der Erklärung Berliner PhilosophInnen, unterschrieben von namhaften ProfessorInnen wie Margherita von Brentano, Micheal Theunissen und Ernst Tugenthat, wird Singers „Praktischer Ethik“ bescheinigt, „eine rationale und konsistente Lösung für die unterschiedlichen Probleme der angewandten Ethik zu erarbeiten und dabei die Voraussetzungen seines Denkens offenzulegen“, womit eine Art universitäres Gütesiegel verliehen wird: 'Philosophisch geprüft. Diskutierbar.‘ Eben darin liegt das Problem.
Rationalität ist eine Eigenschaft von Diskursen, die sich mit Problemen befassen, die rational entscheidbar sind oder sein sollen. Wo es um das Lebensrecht von Subjekten geht, kann die Ausschließlichkeit einer solchen Eigenschaft nicht mehr beansprucht werden. Wer das dennoch behauptet, handelt fahrlässig, und das nicht nur menschlich und politisch, sondern auch theoretisch. Singers Sprache disqualifiziert ihn für einen rationalen Diskurs selbst in dem engen Rahmen seiner Zuständigkeit. Ich zitiere repräsentativ: „Auch für den Präferenzutilitarismus ist das dem getöteten Wesen zugefügte Übel nur ein zu beachtender Faktor, und die Präferenz des Opfers könnte manchmal durch die Präferenzen von anderen aufgewogen werden.“ oder auch: „Im Rahmen dieser Ethik ist es möglich und notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu vernichten“. Wer so schreibt und spricht, hat eben nicht „die Voraussetzungen seines Denkens offengelegt“. Er hat sich im Gegenteil einer Sprache bedient, die sich ihrer unabdingbaren Qualität selbst enthoben hat, wo es um Subjekte geht: zu beschreiben, was in Menschen vorgeht und was sie zu Menschen macht. Wer so schreibt, hat nicht verstanden, welchen Ethos Philosphie als Erkenntnisform verfolgen muß: die Entfremdung der Subjekte von sich selbst, wie sie ihnen in gesellschaftlichen Institutionen und ihren Sprachen begegnet, zu benennen und ihr zu begegnen.
Es ist nicht Aufgabe der Philosphie, Leben und Tod zu definieren - und war es nie. Wer das als Fachphilosoph versucht, sollte der Zunft verwiesen werden und nicht von ihr geschützt.Die theoretische Einrichtung einer „Glücksökonomie“ ist aberwitzig und nicht einmal erkenntnistheoretisch rechtfertigbar, denn sie ignoriert, daß Glück ein per se individuell definierter Begriff ist. Singer macht sich die dramatische Kausuistik der Probleme zunutze, ohne ihre entscheidende Dimension zu thematisieren: daß Einzelfälle erschüttern, weil es Einzelfälle sind. Es fehlt nicht an Meistern des Richtspruchs, sondern an Phänomenologen, die den Opfern zur Sprache verhelfen. Wer an Traditionen der Aufklärung anknüpft, der sollte die wesentliche Lektion dieses Umbruchs begriffen haben: die Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Subjekte kann nur erfolgen, indem sie sich selbst zur Sprache bringen, mit ihren Widersprüchen, mit ihren Zweifeln und mit dem Bewußtsein, daß die Grenzen logischer Argumentation nicht zugleich die Grenzen des Lebens sind.
Dies alles schließt das Sprechen über ein offenliegendes Problem nicht aus. Aber immerhin ist bezeichnend, mit welcher Verve seitens der PhilosophInnen nach einer Regel gesucht wird, wo die Einrichtung einer Regel zumindest fragwürdig ist: wer untersucht dieses Bedürfnis, über den individuellsten Vorgang selbst - das Ende eines menschlichen Lebens - eine allgemein anwendbare Regel zu finden? Wieviele Implikationen hat bereits diese Suche, gerichtet gegen den Kreis der Betroffenen, die, als Angehörige oder Opfer, von FachphilosophInnen entmündigt werden in dem vielleicht unzulänglichen, aber notwendigen Versuch, zu einer gerechten Entscheidung zu gelangen? Der Gestus einer richterlichen Philosophie, die sich zur Meisterin über Menschen macht, hat sich vielleicht noch nicht oft genug blamiert. Er verwirklicht sich hier neu - in einer Sackgasse positivistischen Denkens, das sich selbst zur Metaphysik transzendiert, anstatt seine Grenzen redlicherweise darzustellen.
Elke Schmitter
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