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Prager Schlipse

■ „Wahlverwandtschaften“ von Karel Vachek: Sehen!

Kultfilme kommen zur Zeit oder zur Unzeit. „Wahlverwandtschaften“ ist keiner, aber könnte einer werden. Er ist, mehr oder weniger gewollt, eine Studie der 60er Jahre. Zunächst ihrer Gegenstände: schmale Kragen und stramme Schlipse, klobige Milchflaschen mit Bügelverschlüssen und glitzernde Silberfeuerzeuge. Diese Accessoires findet man bei den Protagonisten des Prager Frühlings, denen Karel Vachek, damals 28jährig, gefolgt ist bis in die Kantinen und die Sitzungen des ZKs einer kommunistischen Partei, die damals reformwillig war und enormen Kredit beim Volk besaß.

Eine Studie der 60er auch wegen der Naivität der Protagonisten, was die Macht der Dokumentation betrifft. Sie spüren nicht einmal wie sie diskreditiert werden, wenn sie sich lachend zurücklehnen und zu den Filmleuten sagen: „Interessant wird es erst, wenn ihr rausgegangen seid!“. Und doch ahnen sie: „Der wird einen Kommentar dazu schreiben, wie du das Würstchen ißt.“ Nur: der Kommentar schreibt sich selbst, in diesem Satz, bei laufender Kamera.

Am Ende steht ein Greis da, Ludvik Svoboda, gewählt zum neuen Präsidenten der Republik, ein alter General, die Puppe, die den Kompromiß tragen soll zwischen Reformern hier und Russen dort, die, wie man weiß, ihre Panzer schon auftanken. Aber davon spricht der lakonische Film - etwas zu hintersinnig betitelt „Wahlverwandtschaften“ - nicht. Er bleibt bei den Milchflaschen und Glatzen, bei den großen Reden und kleinen Witzchen. Glasnost als Farce, in einer irgendwie harmlosen Zeit, als noch nicht jedes Projekt gesellschaftlicher Utopie bitter geworden war.

Ulf Erdmann Ziegler

Wahlverwandtschaften (Sprizneni Volbou) von Karel Vachek 35mm, s/w, 85 Minuten.

14.2. Urania 14 Uhr

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