: Nato bis an den Ural?
Ein System kollektiver Sicherheit in Europa ist noch nicht in Sicht ■ K O M M E N T A R
Die militärische Machtwährung ist in einem dramatischen Verfall begriffen. Mit dieser Einschätzung überraschte Kanzlerberater Michael Stürmer vor knapp einem Jahr. Damals ging es um die Nato-interne Auseinandersetzung zwischen der BRD auf der einen, den USA und Großbritannien auf der anderen Seite, die im Gegensatz zu den Bundesdeutschen an Verhandlungen über die atomaren Kurzstreckenraketen kein Interesse hatten. Monate bevor in Osteuropa der Sturm richtig losbrach, prognostizierte Stürmer, daß die Nato angesichts Gorbatschows nicht mehr lange sein wird, was sie vierzig Jahre war - eine Allianz um die Sowjetunion aus Europa herauszuhalten, die USA reinzuholen und die Deutschen niederzuhalten. Säuerlich waren Stürmer und seiner ideologischen Gefolgschaft aufgestoßen, daß die Nato sich von der stillschweigenden Intention der Niederhaltung der Deutschen keinesfalls verabschiedet hatte.
In der gestrigen 'FAZ‘ entdeckt derselbe Stürmer auf der Suche nach der neuen Nato plötzlich, daß die alte Begründung auch die neue sei: die USA in Europa, Deutschland im Bündnis und in Krisen unter Kontrolle zu halten. So ändern sich die historischen Wahrheiten, sobald sich die Machtverhältnisse ändern.
Gesucht wird zur Zeit ein neues Sicherheitssystem für Europa. Die Zeit, in der zwei waffenstarrende Militärblöcke entlang der west-östlichen Scheidelinie in Europa aufgebaut waren, um im Ernstfall auf dem Territorium ihres ehemaligen gemeinsamen Kriegsgegners den Showdown zu vollziehen, ist passe. Trotz aller rhetorischer Bemühungen bedeutet dies nicht nur für den Warschauer Pakt, sondern früher oder später auch für die Nato den Entzug ihrer Existenzgrundlage. Das nun in rasantem Tempo zuerst einmal der Warschauer Pakt zur Disposition steht, ändert daran letztlich nichts. Die Versicherungen der Bundesregierung im sogenannten Genscher -Plan, den sich die USA offenbar nun zueigen gemacht hat, ändert daran im Kern nichts, sondern verweigert nur die Konsequenz aus der Entwicklung. Der Genscher-Schnellschuß mit der ehemaligen DDR als entmilitarisierter Zone unter politischer Kontrolle der Nato, ist eine Beruhigungspille für die westlichen Verbündeten, aber kein Konzept für eine neue europäische Friedensordnung. Sie suggeriert, die Nato könnte die Deutschen auch zukünftig kontrollieren und die Sowjetunion weiterhin heraushalten. Für die westlichen Alliierten mag diese Fiktion noch eine Zeitlang aufrecht erhalten werden können. Tatsächlich belegt der jetzt ebenfalls von Genscher skizzierte Plan zur deutschen Einheit, daß die substanielle Kontrolle der Alliierten über den Prozeß nicht mehr besteht. Für die Sowjetunion kann, allen Beteuerungen nach der Berücksichtigung ihrer Sicherheitsinteressen zum Trotz, die Genscher-Vorstellung nicht akzeptabel sein. Ein starkes Deutschland als europäischer Natopfeiler, der in Kooperation mit den USA die UdSSR weiterhin aus Europa heraushält, ist das Gegenteil eines von Gorbatschow erhofften europäischen Hauses.
Das Dilemma ist allerdings nicht mit der Forderung nach deutscher Neutralität zu lösen. Gefragt sind Konzepte, die sowohl das zukünftige Deutschland als auch die Sowjetunion und mit abnehmender Tendenz die USA einschließen. Das Festhalten an der Nato verstellt den Blick auf neue Möglichkeiten, die einem Europa jenseits der Blöcke gerecht würden. Dazu gehört vor allem in komplizierten militärischen Fragen Zeit. Die Verunsicherung westlich wie östlich der beiden Deutschländer hat vor allem hier seine Ursache: Polen wie Franzosen sind zutiefst irritiert, daß Kohl nicht bereit ist, seine Verantwortung in diesem Prozeß zu übernehmen. Der Vereinigungskanzler zeigt damit nur eins: Er hat aus der Geschichte nicht gelernt.
Jürgen Gottschlich
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