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Attacken gegen Gorbatschow im Obersten Sowjet

■ Einführung eines Präsidentenamtes ist umstritten / Reformer wollen erst das Verhältnis zwischen Moskau und den Republiken klären / Gorbatschow wehrt sich gegen Vorwurf der Intrige / Beratungen über umstrittene Gesetze zum Privateigentum und zum Landeigentum

Moskau (dpa/afp/taz) - Mit einer Beratung über das Gesetz zum Privateigentum hat der Oberste Sowjet gestern in Moskau seine Arbeit fortgesetzt. Der für die Wirtschaftsreform verantwortliche stellvertretende Ministerpräsident Leonid Abalkin sollte die Abgeordneten über die Änderungsvorschläge informieren, die seit der Verabschiedung des Gesetzes in erster Lesung im vergangenen Herbst eingegangen sind. Ebenfalls auf der Tagesordnung steht das Gesetz über Landbesitz, das auch bereits in erster Lesung gebilligt wurde. Die Abgeordneten müssen sich außerdem mit der Tagesordnung der voraussichtlich bis zum 25. April dauernden Sitzungsperiode befassen. Insgesamt haben die 542 Abgeordneten über 50 Gesetzentwürfe zu entscheiden, wovon 20 als besonders dringlich gelten. Am Vortag hatten sie nach heftigen Debatten eine Prioritätenliste von 21 Punkten, nicht jedoch die Reihenfolge ihrer Behandlung, festgelegt.

Kritik hatte sich vor allem an dem Plan von Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow entzündet, schon für den 27. Februar den Kongreß der Volksdeputierten einzuberufen, um über die Schaffung eines Präsidentenamtes mit umfassenden Vollmachten zu beraten. Zuvor war sogar darüber abgestimmt worden, ob die Abschaffung des Artikel 6 der sowjetischen Verfassung, der der Partei bisher die Führungsrolle garantierte, überhaupt auf die Tagesordnung übernommen werden sollte. Der radikale Reformer Gawril Popow wandte sich strikt gegen die Schaffung eines Präsidialamtes, bevor nicht über den ebenfalls notwendigen Umbau der Staatsorgane und die zu schaffenden Kontrollmechanismen entschieden worden sei. Nicht zuletzt hinge die Gesetzgebung von dem künftigen rechtlichen Verhältnis zwischen der Moskauer Zentrale und den einzelnen Republiken ab.

Andere Reformkräfte verlangten, vor der Einrichtung des Präsidialamtes erst einmal die herrschende Rolle der Partei in Armee und KGB zu beseitigen. Auf die Kritik an der Einberufung des Kongresses der Volksdeputierten reagierte Gorbatschow äußerst gereizt. „Wozu brauchen wir noch mehr Zeit? Sollen wir noch länger diskutieren? Wir brauchen einen Mechanismus, um die Ordnung wiederherzustellen“, so Gorbatschow. „Einige sagen, daß Gorbatschow intrigiert, um Präsident zu werden. Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob ich überhaupt kandidieren werde“. Es gäbe sogar Stimmen, die ihn auf eine Stufe mit dem Diktator Ceausescu stellten.

Zum Schluß rief Gorbatschow den Abgeordneten zu: „Wenn die Demokratie nicht gefestigt, durch entsprechende Mechanismen gesichert wird, dann stirbt sie, und wir alle verlieren“. Den Sieg trügen dann jene davon, die die „Schrauben noch fester anziehen wollen, als dies früher der Fall war“.

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