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UdSSR rückt von Neutralität ab

■ Der sowjetische Außenminister Schwardnadse sieht erstmals die Einheit Deutschlands ohne Neutralität / DDR-Ministerpräsident Modrow wertet ergebnislosen Bonn-Besuch positiv / Differenzen mit Kohl in der Frage der polnischen Westgrenze

Berlin (taz) - Während gestern noch Bonns beharrliche Ablehnung eines neutralen Deutschlands den Unmut von DDR -Ministerpräsident Modrow erweckte, ist die Sowjetunion schon dabei, ihre bisherige Forderung nach der Neutralität eines zukünftigen Deutschlands zu revidieren. Sie sei, sagte gestern Außenminister Schwardnadse, zwar die „Idealvorstellung“ der UdSSR, „aber ist sie realistisch? Das ist die Frage“.

DDR-Regierungssprecher Meyer hob gestern in einer Stellungnahme zum Modrow-Besuch in Bonn neben der Neutralitätsfrage die Anerkennung der polnischen Westgrenze als offenen Dissenspunkt. „In dieser wichtigen Frage“ müßten noch viele Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Die „Nichtbereitschaft“ Bundeskanzler Kohls, Polens Westgrenze als unveränderbar zu betrachten, zeige, wie unterschiedlich die Positionen der beiden Regierungen hier sei.

Während der gestrigen Bundestagsdebatte weigerten sich die Koalitionsfraktionen zum wiederholten Mal, einen Schritt in Richtung auf die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze zu machen. Der Vorschlag der SPD-Fraktion, nach den DDR-Wahlen vom 18.März sollten beide deutsche Regierungen die polnische Westgrenze völkerrechtilch verbindlich bekräftigen, lehnten sie mit ihrer Mehrheit ab (zu den anderen Themen der Bundestagsdebatte siehe Seite 4).

Abgesehen von diesen klaren politischen Wertungen bemühte sich die DDR-Regierung um eine positive Würdigung des erfolglosen Besuchs Modrows in der bundesdeutschen Hauptstadt. Alle Gespräche seien von „Offenheit und Sachlichkeit“ geführt worden, sagte Regierungssprecher Meyer. Man habe dem Ministerpräsidenten viele „konstruktive und interessante“ Angebote gemacht, wichtige Elemente für das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten seien weiter gefördert worden. Die Einsetzung einer Expertenkomission zur Währungsunion und die 30 Millionen humanitärer Hilfe hob Meyer positiv hervor. Lapidar stellte er fest, in der Frage des von der DDR gewünschten Solidarbeitrags habe es „entgegengesetzte Positionen“ gegeben. Trotz des Zeitdrucks, mahnte Meyer im Namen Modrows weiter, müsse jetzt mit „hoher Verantwortung und Besonnenheit“ weitergearbeitet werden. Das habe nichts mit „Abbremsung“ zu tun, sondern mit „Überschaubarkeit“ für die Bürger. Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft könnten keine Sofortmaßnahme sein.

Der Ministerrat hat gestern die Arbeit der Delegation in Bonn ausdrücklich „gebilligt“, teilte der Regierungssprecher mit. Besonderen Dank habe man von seiten der Gewerkschaften erhalten, die sich „sehr vertreten“ gefühlt hätten. Am Montag will Modrow die Ergebnisse des Bonn-Besuchs mit dem Runden Tisch diskutieren.

Inzwischen mehren sich die Forderungen der deutschen Nachbarn in die Verhandlungen um die deutsche Einheit einbezogen zu werden. Nach dem Wunsch des polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki soll auch Polen am in Ottawa verabredeten Tisch sitzen. Dagegen hat sich gestern In Bonn Bundesaußenminister Genscher ausgesprochen. Die vereinbarte Zusammensetzung sei „historisch und rechtlich“ begründet. Allerdings müßten bei einem solchen Treffen Antworten auf die legitimen Interessen des polnischen Volkes gefunden werden.

Auch die Franzosen wollen bei der deutschen Einheit mitreden. Das französische Volk solle befragt werden, forderte der KP-Chef Marchais und malte eine dramatische Zukunftsperspektive: „Großdeutschland heißt: Ein zerschmettertes Frankreich.“

Erstmals erhoben gestern auch die Ministerpräsidenten der Länder die Forderung, bei der Ausgestaltung des zukünftigen Deutschland mitzureden. Sobald die Länder in der DDR rekonstriert sind, sollen diese, so ist es der Wunsch der Ministerpräsidentenkonferenz, ebenfalls in die Gespräche einbezogen werden. Man wolle sicherstellen, daß Deutschland nicht zentralistisch, sondern ein föderaler Staat wird.

bf

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