Berlin: Europäische Hauptstadt der Muslime

■ Zwischen Abschottung und Abdrängung: Das religiöse Leben der Muslime spielt sich oft im Verborgenen ab / Nach Schätzungen praktizieren ein bis zwei Drittel der Berliner Muslime ihren Glauben / Gläubige finden auch bei ihren Landsleuten oft wenig Unterstüzung / Die junge Generation fordert Recht auf freie Religionsausübung /

Merkwürdig still waren in der Vergangenheit die Fürsprecher der ethnischen Minderheiten, wenn es um die Frage des Rechts auf Religionsausübung ging. Merkwürdig, denn Berlin ist West -Europas Hauptstadt der Muslime. 130.000 leben in der Stadt. Neunzig Prozent davon sind türkischer Herkunft. Damit sind die Muslime - nach den Katholiken und Evangelen - die drittgrößte Religionsgemeinschaft. Nach unterschiedlichen Schätzungen praktizieren davon ein bis zwei Drittel den Islam aktiv. Meist in auf schmuddeligen Hinterhöfen verborgenen Moscheen, oder in dubiosen Korankursen. Der Eindruck vieler Muslime, ins gesellschaftliche Abseits gedrängt zu werden, ist sicherlich nicht falsch. Zumal die ausländerfreundliche, linke und liberale Öffentlichkeit bislang andere Sorgen hatte, als sich mit den religiösen Interessen der Minderheiten zu befassen. Religion gilt in der linken Szene bekanntlich als Opium für das Volk. (ganz zu unrecht, gell?! d.sIn)

Islam - ein Reizwort, auf das die Anhänger der unterschiedlichsten Weltanschauungen ähnlich reagieren: Mit einem Unbehagen, Erschauern und schneller Abwehr. Bei der Linken wird die Gefahr eines Islams beschworen, der nationalistisch bis faschistisch eingefärbt ist. Nicht zuletzt die Ermordung des türkischen Lehrers Celattin Kesim am 5.1.1990 vor der Mevlana Moschee gilt als Beweis für die Aggressivität parteipolitisch indoktrinierter islamischer Vereinigungen. (wohl ebenfalls ganz zu unrecht, gell?! d.sIn) Die „Rushdie-Affäre“, die Revolution im Iran und die Schlagworte vom Fundamentalismus tun ihr übriges.

Die liberale Öffentlichkeit stößt sich an der Unterdrückung der Frau im Islam, nationalistischer Intoleranz und der Scharia - dem islamischen Recht - mit brutalen Bestrafungsaktionen. Die Rechte beschwört gebetsmühlenhaft die Gefahr des Untergangs des Abendlandes. Der Vorsitzende der „Republikaner“, Schönhuber, läßt keine Gelegenheit aus, davor zu warnen, daß schon bald der Banner des Propheten über die Städte und Dörfer von Obersdorf bis Dithmarschen wehen könnte. Wenig Unterstützung finden die gläubigen Muslime Berlins in ihren „Bündnispartnern“, der türkischen Intelligenz. Noch heute trauert diese dem verlorenen Laizismus (Laizismus: Trennung von Staat und Kirche. d.Red.) Kemal Atatürks, der in den zwanziger Jahren Religion und Staat strikt voneinander trennte, nach. Oftmals verbittert müssen sie zur Kenntniss nehmen, daß auch siebzig Jahre nach Atatürks Versuch, die Türkei zu europäisieren, die Mehrheit ihrer Landsleute ihre Identität im islamischen Kulturkreis sehen. Wechselseitig decken sich die eher gleichgültigen Muslime und die praktizierenden Muslime mit Vorwürfen ein. Da die organisierten islamischen Gruppen fast durchweg konservativ bis reaktionär sind, werden sie von der türkischen Linken schnell in die faschistische Ecke abgeschoben. Jene wiederum werden von organisierten Muslimen häufig als gottlose Kommunisten denunziert und verachtet.

Die Hoffnung vieler, das islamische Problem könnte sich von alleine lösen, wird sich nicht erfüllen. Weder sind in Zukuft größere Rückreisewellen und damit eine zahlenmäßige Reduzierung der Muslime zu erwarten. Noch erfüllen sich Spekulationen, die zweite und dritte Generation werde keine größeren religiösen Bedürfnisse entfalten. Im Gegenteil. Je mehr türkische und arabische Jugendliche von der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt werden, umso wichtiger wird ihnen der Islam. Mit der häufig in grellen Farben beschriebenen Re -Islamisierung hat dies aber nur teilweise zu tun, sondern ist der Ausdruck der kulturellen Identitätssuche. Der Fastenmonat (Ramadam), das Zuckerfest (seker bayram), das Opferfest (curban bayram), Beschneidung und entsprechende Hochzeitszeremonien werden auch von nicht streng Gläubigen als Zeichen ihres kulturellen Erbes angesehen.

Mit den Kindern der Migranten wächst eine Generation heran, die auch nach neuen Wegen der muslimischen Praxis sucht. Frei von den nationalistischen Tönen des Staatsislams und frei von kemalistischer Gängelei. Sie lassen sich nicht mehr, wie ihre Eltern, in die Ecke des mit Mißtrauen geduldeten, exotischen Muslims abdrängen. Stattdessen fordern sie ihre im Grundgesetz verbrieften Rechte auf freie Religionsausübung ein. Die Reife einer multikulturellen Gesellschaft wird sich nicht zuletzt daran messen, welchen Raum sie den religiösen Minderheiten zugesteht. Ob die Muslime ihre Abschottung aufgeben und sich der Diskussion mit der Berliner Gesellschaft stellen, wird sich zeigen. Die ideologischen Differenzen sind ebenso groß wie die gegenseitigen Vorbehalte. Allerdings dürfte sich langsam herumsprechen, daß multikulturelle Gesellschaft kein endloses Stadtteilfest ist, sondern auch Mut zum Fremden und Andersartigen erfordert - manchmal auch den Mut zum Konservativen.

Eberhard Seidel-Pielen