Über die Kunst des Zwischenraums

■ Giorgio-Morandi-Retrospektive in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf

Es gibt nichts Abstrakteres als die sichtbare Welt.“ So lautet eine der wenigen Auskünfte, die der italienische Maler Giorgio Morandi seinen Bildern zur Interpretation beigab. Vor beinahe 100 Jahren , am 20. Juli 1890, wurde er in Bologna als ältestes von fünf Kindern geboren und lebte hier bis zu seinem Tod 1964. Nachdem er kurze Zeit im Kaufmannskontor seines Vaters gearbeitet hatte, besuchte er von 1907 bis 1913 die Akademie der schönen Künste seiner Heimatstadt und unterrichtete danach an einer Volksschule als Zeichenlehrer. Vom Militärdienst wurde er wegen einer Krankheit befreit; von 1930 bis 1956 war er Professor für Radierung an der Kunstakademie Bologna. Erst nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit unternahm er anläßlich einer Ausstellung seiner Bilder die einzige Auslandsreise seines Lebens in die Schweiz, nach Winterthur.

Bis auf einige wenige Fahrten innerhalb Italiens waren Morandis äußere Bewegungen auf die beiden Pole seiner Arbeit beschränkt: das Hinterzimmer in der Wohnung seiner Familie in der Via Fondazza und das Sommerhaus in Grizzana, einem kleinen Dorf in den Bologneser Bergen. In den zwei Hauptmotiven der Bilder Morandis spiegelt sich das verharrende Leben wider. Die Arbeiten tragen meist die Titel Stilleben (Natura morta) oder Landschaft (Paessaggio) - gewisse Kritiker haben ihn auch als den „Flaschenmaler“ charakterisiert.

Fast die Hälfte der nun in der Düsseldorfer Kunstsammlung ausgestellten Werke zeigen tatsächlich Flaschen, Vasen, Tassen, Gefäße. Den anderen Teil bilden Landschaften mit einander sehr ähnlichen Perspektiven und Ausschnitten Bergen, Häusern, Wiesen und Bäumen: diese prononcierte, gelassene Ruhe im Werk, als gerade in Italien der Futurismus versuchte, die neue Schnelligkeit der Technik ins Bild zu setzen.

Es scheint sicher, daß es Morandi nicht um das vordergründige Bewahren oder Festhalten der Dinge ging. Die Flaschen und Gefäße, die er immer wieder in wechselnden Konstellationen und Lichtverhältnissen malte, fand er auf dem Abfall oder beim Trödler, einiges ließ er sich in Metall von einem Schmied herstellen. Es waren Dinge für die Darstellung, sie hatten für ihn sonst keine besondere Bedeutung, waren simpel. Drei Milchcafeboules, eine Zitronenpresse, eine Vase, zwei unregelmäßige Quader - damit scheint ein Stilleben von 1951 ausreichend gekennzeichnet. Offen bleiben dabei die merkwürdigen Auslassungen, vielleicht sind es Schatten; der Ort des Dargestellten ist ungewiß, ein Schleier liegt über den Farben.

Wenn man dieses Bild genauer betrachtet, stellen sich Fragen ein. Woher kommt das Licht und damit der Schatten, der die Linien der Gegenstände verunklärt? Die Gefäße stehen wohl auf einem Tisch, aber von dem ist nur im linken Hintergrund eine Kante zu sehen, der Rest verliert sich. Wo ist die Begrenzung des Raumes? Steht dieser Tisch drinnen oder draußen vor einer Wand? Das Licht zeigt die Streuung eines flirrend heißen Sommertages ohne blauen Himmel, aber die Farben sind blaß und fahl, wie an einem späten Nachmittag im Winter, bevor das letzte Licht vergeht. Zwischen den banalen Dingen des Alltags findet eine verrückte Dislozierung statt, eine Verlagerung ihrer Selbstverständlichkeit. Nur über die Anschauung, die Zug um Zug das Dargestellte mit den Daten allgemeiner Erfahrung vergleicht, bekommt das Bild eine Tiefe, die es aus der Notwendigkeit genauer Ähnlichkeit mit dem Realen entläßt.

Morandi selbst hat seine Arbeit als eine immer wiederholte Variation gesehen, er wehrte Ruhm und Kaufwünsche mit dem Satz ab: „Man soll mich in Ruhe lassen! Bevor ich sterbe, möchte ich zwei Bilder zu Ende bringen, nur zwei Bilder.“ Bilder als Versuche, den Zwischenraum zu ergründen, den negativen Raum, der sich dem schnellen Blick auf die Gegenstände verbirgt, der aber konstitutiv ist für die Wahrnehmung von Welt schlechthin.

Besonders in den - auch in Düsseldorf gezeigten - späten Zeichnungen und Aquarellen wird deutlich, wie die Gegenstände nur noch Aussparungen sind, erst der sie umfließende, umgebende Zwischenraum macht sie zu Häusern, Bäumen, Flaschen. In diesen Arbeiten gelingt es Morandi, die Form und den Raum so durch die Einbeziehung des Lichtes zu zerdehnen, daß sie nur noch als zweidimensionale Gegensätze von positiv und negativ übrigbleiben.

Die Konzentration auf wenige Orte und Dinge auch in der Kunst verschafft Morandi so eine besondere Stelle als Bindeglied zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, Philosophie und Poesie, das er selbst damit begründete, daß er das Glück hatte, ein ganz ereignisloses Leben zu führen. Er bewies damit, daß man der dauerhaften Einsamkeit nicht gewahr werden kann, ohne Vertrauen in die Dauer der Dinge zu bekommen.

Johanna Schenkel

Giorgio-Morandi-Retrospektive in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf (bis 18. März 1990, danach in Bologna), Katalog 39,-DM