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Frankreich: Der Gau ist wahrscheinlich

Atomfirma EDF räumt erstmals Möglichkeit eines schweren Unfalls ein  ■  Aus Paris Mycle Schneider

Jetzt ist es raus. Die französischen Atomkraftwerke werden selbst von der staatlichen Betreiberfirma EDF als Gau -anfällig betrachtet. In einem internen Bericht des EDF -Generalinspekteurs, Pierre Tanguy, wird eingeräumt, daß ein Gau keinesfalls auszuschließen sei. Ein schwerer Unfall mit „einem großen radiologischen Risiko“, der zur Anwendung der Notstandspläne führt, habe zwar theoretisch nur eine Wahrscheinlichkeit von 1:100.000 pro Reaktorjahr, aber: „Es muß davon ausgegangen werden, daß beim gegenwärtigen Zustand der Sicherheit des EDF-Reaktorparks die Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Unfall im Laufe der nächsten zehn Jahre eintritt, vielleicht bei einigen Prozent liegt.“ Ein ungeheuerliches Eingeständnis, angesichts der Restrisikoeinschätzung, die der öffentlichen Meinung üblicherweiese vorgesetzt wird.

Es wird auch deutlich, an welches Szenario Tanguy denkt. Der Bruch eines oder gleichzeitig mehrerer Dampferzeugerrohre wird inzwischen systematisch einkalkuliert. In einem solchen Szenario besteht nicht nur die Gefahr, daß radioaktives Primärwasser über die Dampfleitung in die Umwelt gerät, sondern auch der Verlust von Kühlwasser und die Kernschmelze.

Das Tanguy-Papier, datiert vom 8.Januar, ist sowohl an die Direktoren als auch an die AKW-Betriebsleiter gerichtet. „1989 war ein 'heißes‘ Jahr für die Sicherheit bei EDF“, meint Tanguy in seinem Jahresrückblick. Seine heiße Liste reicht bis zur Schilderung ernsthafter Zwischenfälle. Es fängt damit an, daß die AKW-Betreiber „regelmäßig Schwierigkeiten“ hätten, die Vorschriften auf dem aktuellen Stand zu halten. So ist in St-Laurent-des-Eaux plutoniumhaltiger Brennstoff, MOX, geladen worden, ohne daß die Akten über Verhaltensregeln entsprechend geändert wurden. Es endet bei Zwischenfällen wie in Gravelines, wo ein Steuerelement, unentbehrlich zur Abschaltung, auf halbem Weg stecken blieb. Die Steuerstäbe hatten sich „schneller als vorgesehen“ abgenutzt. Serienfehler wurden bei den 1.300 -Megawatt-Reaktoren entdeckt. Schlämme, die metallisch und korrosiv sind, greifen die Dampferzeugerrohre an.

Der EDF-Bericht rügt auch „Vergeßlichkeiten“ bei Reparaturarbeiten. So lief Dampierre-1 über sieben Monate lang ohne Wasserstoffabscheidesystem. Zwei Pfropfen waren im System vergessen worden. Gravelines-1 wurde gar über ein Jahr lang ohne funktionstüchtige Sicherheitsventile betrieben.

Das Tanguy-Papier ist aber auch ein Strategiepapier, das nicht vor Selbstkritik zurückscheut. „Die Qualität der Leute, ihr individuelles und kollektives Verhalten, ihre Arbeitspraxis und ihre 'Kultur‘ im allgemeinen scheinen dem, was auf dem Spiel steht, nicht gerecht zu werden. Und dies auf allen Verantwortungsebenen, insbesondere der der Manager.“ Und weiter heißt es dann: „Die Sicherheit muß effektiv in den Vordergrund rücken, nicht nur in Worten, sondern auch in den Köpfen.“

Und dann geht es den Sicherheitsbehörden an den Kragen. Deren öffentliche Kritik gegenüber EDF habe „vor allem dazu geführt, daß die Öffentlichkeit das Vertrauen verloren hat, das sie in den Atombetreiber hatte“. Tanguy warnt vor dem Beispiel USA. Dort hätten die „reglementären Zwänge einen großen Anteil der Verantwortung am Mißlingen des Atomprogramms“. Frankreich befinde sich auf einem ähnlich verhängnisvollen Weg.

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