: Wie ein Baum im Hydepark
Die schönen und weniger schönen Stunden einer Leipziger Litfaßsäule in den Zeiten der Wende ■ Aus Leipzig Ulf Rasch
Sie steht in einem abgerissenen Kleid mitten auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz und blickt traurig aus ihrer Lumpenhülle, weil sich niemand mehr wirklich um sie kümmert. Ab und zu kleben ihr ein paar gutherzige Idealisten einen neuen Flicken aufs Gewand. Doch kaum sind die Helfer wieder fort, pflücken andere den Fetzen ab. Sie ist eine Litfaßsäule und ihr Vater der weltberühmte Gewandhauskapellmeister und Revolutionär Kurt Masur.
Geboren wurde sie im Oktober. Damals noch drängten sich neugierige Leipziger und Touristen scharenweise vor ihr, um zu erfahren, was passiert ist, welche neue Partei gegründet wurde, welcher Stasi-Skandal aufgeflogen ist, wie die SED -Bonzen gelebt und geherrscht haben. Um sie herum wimmelten manchmal Hunderte von Menschen, im Gespräch, wie das Leben nun bald besser sein würde. Oftmals fühlte sie sich wie ein Baum im Hydepark, wenn sich an der Speakers-Corner ein Redner auf ihn schwingt, um besser gesehen und gehört zu werden.
Doch ihre schönsten Stunden erlebte die Litfaßsäule vor dem Gewandhaus zwischen Uni, Post und Oper montags, wenn sich Hunderttausende Demonstranten auf dem Karl-Marx-Platz versammelten, um den Herrschenden in Ost-Berlin zu sagen, wer hier eigentlich das Volk ist. Sie gehörte dazu, sie stand mitten drin im Geschehen, als die Bilder der Montagsdemonstrationen rund um die Welt gingen.
Jetzt bleiben die Helden des Oktobers lieber zu Hause. Nur noch die zerschlissene Plakatsäule steht wie ein Halm im Wind zwischen Radikalen, Randalierern, Besoffenen, Spinnern, Extremisten, Sektierern, die auf die Meinung Andersdenkender speien. Leipzigs weltweit berühmte und geachtete Demonstrationskultur gehört bereits der Geschichte an. Geht von hier noch Druck auf Berlin aus? Die Montagsdemonstration verkommt zur scheinpolitischen Holzerei, zum semikommunikativen Hickhack, zur Wahlkampfdarbietung. Traurig registriert's die Litfaßsäule, bis auch sie gänzlich auf den Hund gekommen ist: zerrissen, verschlissen, abgelumpt.
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