: Die sowjetische Filmkunst
■ Von Tengis Abuladses „Buße“ bis hin zu Kira Muratowas „Das asthenische Syndrom“
Die Perestroika hat der sowjetischen Filmkunst die Befreiung vom Diktat des Staates und der Beamten, Befreiung von der Zensur, die ökonomische Freiheit gebracht. Die Möglichkeiten für die Arbeit haben sich von Grund auf geändert, sie sind unermeßlich größer geworden. Solche Möglichkeiten hatte wahrscheinlich keine einzige Generation sowjetischer Filmschaffender.
Heute stellen sie sich die Frage: was hat ihnen die lang ersehnte Freiheit gebracht? Ist diese Freiheit nichts als die Beseitigung von Hindernissen? Oder ist diese Freiheit dazu da, um das kreative Potential der Persönlichkeit eines Künstlers zu entfalten? Vielleicht ist die Freiheit deshalb so gut, weil sie allen Dingen ihren wahren Wert zurückgibt? Die Abwesenheit von Hindernissen läßt sofort das Ausbleiben von guten Absichten feststellen.
Der Film führt heute den Zuschauer an Orte, die früher verboten waren, in die verborgensten Winkel, in Zonen mit erhöhtem Risiko. Es entstehen Filme wie „Das Intermädchen“ von P. Todorowski - er erzählt von der Prostitution - ein soziales Übel, dessen Existenz in der Sowjetunion früher verschwiegen wurde; „Ein Ereignis von Rayon-Maßstab“ von S. Sneshkin - dieser Film kritisiert die Komsomol -Apparatschiks; „Der Diener“ von W. Abdraschitow, eine Studie über die Pschologie von Herr und Knecht unter den Bedingungen einer sozialen Hierarchie; „Die Feste von Baltasar“, oder eine Nacht mit Stalin“ von J. Kara - eine Parodie auf die sowjetische Mythologie; „Grenzenlos“ von I. Gostew - dieser Film zeigt die harte Wahrheit über den schrecklichen Zustand der Gefängnisse im Lande. Vor einigen Jahren waren solche Filme undenkbar.
Und schließlich ist da der Film „Das asthenische Syndrom“, der sozusagen die traurigen Beobachtungen unseres Lebens zusammenfaßt und eine trostlose Diagnose stellt - die Gesellschaft ist krank, müde und völlig erschöpft.
Auf der Leinwand sieht man das Leben wie es ist: Armut, Schmutz, richtige Slums. Zimmerwände mit heruntergerissenen Tapeten, überschwemmte Keller. Ich glaube, daß auch schon ein neuer Terminus da ist, der in der Filmkunst die Filme dieser Art bezeichnet - „Tschernucha“ - „Schwarzmalerei“.
Man sieht deutlich die Tendenz, einen erniedrigten Menschen im Augenblick seines vollen Verfalls zu zeigen, ohne jede Hoffnung auf einen Ausweg aus seiner verzweifelten Situation. Die Kinos werden von Ausgestoßenen überflutet Drogenabhängige, Alkoholiker, Prostituierte, Arbeitslose, Bettler, Obdachlose. Da sind die Filme „Obdachloser“ von N. Skuibin, „Die Drei“ von B. Kilibajew, „Die Rock-Tragödie“ von S. Kulisch, „Die Nadel“ von R. Nugmanow...
Natürlich gibt es dafür eine Erklärung. Diese Periode in der Entwicklung unserer Filmkunst ist leicht zu verstehen. Es ist eine natürliche Reaktion auf das ausufernde Pathos und den offiziellen Optimismus, auf Lügen und Halbwahrheiten, die in den Kinos die Zuschauer überwältigten. Jahrzehntelang hatte es in unseren Kinos nur Sieger gegeben.
Egal, was wir sehen - „Assa“ oder die „Schwarze Rose - Rote Rose“ von S. Solowjow, „Kleine Wera“ oder „Dunkle Nächte in Sotschi“ von W. Pitschul, „Sir“ oder „Katala“ von S. Bodrow, „Die Stadt Zero“ von K. Schachnasarow oder „Die Puppe“ von I. Fridberg - überall sehen wir ein und denselben Konflikt in immer neuen Varianten: ein einsamer, verlorener Mensch, ohne Orientierung, ohne Zukunft, unmittelbar vor dem Ruin.
Für manche werden die Drogen zum letzten Trost, andere flüchten sich in „zufällige“ Gesellschaften, oft in kriminelle Banden. Der Sowjetmensch ist es gewohnt, immer im Kollektiv zu sein, mit dem Kollektiv Schritt zu halten - das hatte man ihm jahrzehntelang beigebracht -. Darum ist er zum Leben eines Einzelgängers nicht bereit.
Der Individualismus, nach den Gesetzen des sozialistischen Zusammenlebens immer ein Fluch, erweist sich heute als eine untragbare Bürde.
Die Entwicklung von der „Buße“ (Tengis Abuladse), die unter den Bedingungen der harten Zensur begonnen hatte, zu der Filmkunst der späten 80er Jahre ist bezeichnend: Abuladse sieht noch Erniedrigte, die sich aber nicht fügen, er weiß, daß der Künstler immer ein Beschützer der Menschlichkeit bleibt. Die Autoren vieler moderner Filme finden hingegen für das Übel keine Alternative. Wenn man ihre heftigen Beschuldigungen und kalten Urteile hört, wenn man leidenschaftliche Reue-Szenen sieht, fragt man sich: treiben es denn die Filmleute mit Entlarvungen und mit Racheakten nicht zu weit? In ihren Filmen fehlt oft der Schmerz, das Mitleid mit den erniedrigten Menschen.
Neue Regisseure machen von sich reden - das sind W. Ogorodnikow, O. Tepzow, S. Sneshki, W. Pitschul, O. Naruzkaja und andere, die aktuelle und harte Filme machen.
Sehr deutlich wurde die Kluft zwischen den Regisseuren des sogenannten „elitären Films“ - das sind A. Sokurow, A. Kaidanowski, I. Dychowotschny - und den Anhängern der kommerziellen Shows, die bis in den Kitsch reichen - das sind solche Autoren wie zum Beispiel J. Kara.
Aber im großen und ganzen wird die moderne sowjetische Filmkunst von der Intoleranz gegen Lüge bestimmt, von dem Wunsch, die Last alter Dogmen abzuschütteln. Das Erscheinen solcher bedeutenden Filme wie zum Beispiel „Das asthenische Syndrom“ von Kira Muratowa, „Rette und Bewahre“ von A. Sokurow, „Lady Macbeth aus Minsk“ von R. Balajan, „Der Friedhof“ von A. Itygilow - läßt die Hoffnung aufkommen, daß die sowjetische Filmkunst gute Entwicklungsperspektiven hat.
Jewgenija Tirdatowa, Filmkritikerin bei „Sowjetski Ekran“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen