: Ein Symbol der Degeneration
■ Kurze Geschichte der unabhängigen Rockmusik in der Tschechoslowakei
Josef Rauvolf
Die Geschichte der tschechischen unabhängigen Rockmusik beginnt schon Ende der sechziger Jahre. Damals, während der kurzen Zeit des Prager Frühlings, entstanden neue Rockgruppen, die versuchten, ihre eigene Musik zu spielen. In Amerika entstand damals der Underground. Es erschienen erste Platten von Mothers Of Invention, Captain Beefheart, The Fugs, Velvet Underground und anderen. Und gerade diese Gruppen standen an der Wiege der unabhängigen tschechischen Rockmusik.
Eine der bedeutendsten dieser Gruppen war und ist die legendäre Plastic People of Universe (PPU). Diese Gruppe entstand im Jahre 1969 nach Auflösung der ersten tschechischen Untergrundgruppe The Primitives Group. Diese Gruppe spielte zwar übernommenes Repertoire (The Fugs, Jimi Hendrix, The Doors), aber Ende der 60er Jahre war das auch nötig. Damals gab es nämlich fast keine Informationen über die Musikszene in der Welt. Als The Primitives Group damals Frank Zappas Lieder spielte, war er in Prag noch ganz unbekannt. Bei seinem viertägigen Besuch in Prag im Januar 1990 traf Frank Zappa auch diese Musiker und spielte mit der Gruppe Pulnoc ein Lied aus dem alten PPU Repertoire. Aber nur die Übernahme guter Musik konnte aus The Primitives Group nicht die Vorläufer des tschechischen Undergrounds machen. Ein wichtiger Faktor war ihre musikalische Philosophie, die Verwendung von außermusikalischen Elementen (Happening und andere Kunstelemente, Mystik usw.).
Noch bevor wir auf PPU zu sprechen kommen, wäre es gut, etwas über eine andere legendäre Gruppe zu sagen. Es handelt sich um die Gruppe Aktual, gegründet und geleitet von Milan Knizak (geboren 1940). Knizak war Mitglied des Fluxus und einer der ersten Protagonisten der verschiedenen Formen des Happenings in der Tschechoslowakei. Die Musik, die er für Aktual (meistens von Nichtmusikern zusammengestellt) schrieb, wurde von John Cage beeinflußt, mit Elementen der aleatorischen und seriellen Musik. Die Gruppe, die ursprünglich Deti bolsevismu (Kinder des Bolschewismus) hieß, benutzte nichttraditionelle Instrumente (Bohrmaschine, leere Asphaltfässer, Mofa, Sirene). In monotonen seriellen Kompositionen vermischten sich verschiedene polyphone Melodien, die Texte waren voll von Parodie, Schreien und magischen Losungen. Bei ihren seltenen Konzerten benutzten die Musiker auch Happeningelemente, hackten Holz, warfen Reis ins Publikum, zerrissen russische Bücher... 1968 fuhr Knizak für zwei Jahre in die USA, und danach widmete er sich nur der bildenden Kunst (1980 war er als DAAD-Stipendist in West-Berlin, wo er später auch lehrte. Im Januar 1990 wurde er zum Rektor der Kunstakademie Prag gewählt). Die Bedeutung dieser Gruppe liegt vor allem darin, daß sie ihre Nachfolger inspirierte, die musikalisch und spielerisch besser waren, und ihnen auch neue Wege zeigen konnte.
Die schon erwähnte Gruppe Plastic People entstand im März 1969. PPU bekannten sich ganz bewußt zum Underground, den sie nicht nur musikalisch, sondern vor allem als ein Gefühl verstanden. Bald nach ihrer Gründung trafen die Musiker den Kunsthistoriker Ivan Jirous, der später ihr Manager und Theoretiker wurde. Jirous brachte andere Intellektuelle und Künstler mit und bald begann eine Gemeinschaft von Leuten aus den verschiedensten Schichten zu entstehen, die etwas Gemeinsames verband: nämlich, daß sie sich der von der wachsenden Normierung diktierten Lebensart verweigerten. Für Ivan Jirous ist „Underground nicht mit einer konkreten Kunstrichtung verbunden. Underground ist eine geistige Haltung von Intellektuellen oder Künstlern, die sich selbst kritisch gegen die Welt abgrenzen, in der sie leben. Es ist eine Bewegung, die vor allem mit Kunst arbeitet, aber ihre Anhänger sind sich dessen bewußt, daß Kunst nicht das Ziel des künstlerischen Strebens ist und nicht sein kann. (...) Eine unbedingte Eigenschaft derer, die sich selbst den Underground als ihre eigene geistige Haltung schufen, ist Wahnsinn und Demut. Wem es an diesen Eigenschaften fehlt, der schafft es nicht, im Underground zu leben.“
Beim ersten Konzert, das ganz im Zeichen der Mythologie des Cornelius Agrippa und der Anbetung der Naturelemente stand, versuchten PPU einen Abriß der Untergrundkosmogonie zu bieten. Dieser Idee wurde auch die szenische Präsentation untergeordnet. Die Musiker in langen weißen Gewändern mit roten Sonnen und bemalten Gesichtern, UFOs, ein Feuerwerk, ein Feuerschlucker. Außer eigenen Kompositionen (zum Beispiel Der Mann ohne Ohren) spielten sie zum ersten Mal in der Tschechoslowakei die Songs von Velvet Underground und The Fugs.
Anfang der 70er Jahre kam es nicht nur in Prag, sondern in der ganzen Tschechoslowakei zu drastischen Maßnahmen, die das Regime gegen die Rockmusik ergriff. Englisch gesungenes Repertoire wurde verboten, die Namen der Gruppen wurden verändert, langes Haar verteufelt. (Das alles wurde für ideologische Abweichung aus dem Westen gehalten, die nur ein Ziel hatte, nämlich die Liquidierung des Sozialismus in der CSSR.) Wer sich nicht unterordnen wollte, verlor die Erlaubnis, öffentlich zu spielen. Alle MusikerInnen mußten sich Gesinnungsüberprüfungen unterwerfen, wo nicht ihre künstlerischen Qualitäten, sondern ihre Ergebenheit in die offizielle Kulturpolitik und der Wille zur Kollaboration kontrolliert wurden. Man hatte die Wahl: entweder sich zu korrumpieren oder die Auftrittserlaubnis zu verlieren. Einige Musiker oder Sänger, vor allem aus der Unterhaltungsmusik, gingen den ersten Weg. Wer sich nicht bestechen ließ, durfte nicht mehr öffentlich auftreten. Allein in Prag waren es ungefähr 3.000 Musiker. Einige der Betroffenen hörten ganz auf, andere stiegen in Begleitgruppen von Popstars um. Die Hartnäckigsten aber spielten weiter - ohne Erlaubnis. Damit riskierten sie Verfolgungen durch die Geheimpolizei und andere Repressionen. Konzerte von diesen Gruppen wurden in verschiedene private Landhäuser, Landkneipen usw. verlegt. Auch wenn für diese Aktionen nicht öffentlich geworben werden durfte, kamen immer viele Leute.
Selbstverständlich interessierte sich auch die Geheimpolizei für diese Aktivitäten. Sie hat eines dieser privaten Landhäuser gleich in Brand gesteckt.
Diese Verfolgungen hatten ihren Höhepunkt im März 1976, als 29 Musiker, Künstler und Freunde aus dem Kreis um die Gruppe PPU verhaftet wurden. Vier wurden verurteilt (bis zu 18 Monate Knast). Obwohl sie wegen „Organisierung von Störungen der allgemeinen Ordnung“ und angeblicher Obszönität verurteilt worden waren, handelte es sich um einen politischen Prozeß: Vor Gericht ging es um Fragen der Kunst, um das Recht des Künstlers, sich frei auszudrücken. Gleichzeitig wollte die Macht alle potentiellen Nachahmer warnen. Der Prozeß provozierte eine große Sympathiewelle und Proteste von Künstlern und Intellektuellen aus der ganzen Welt und war auch einer der Impulse, der zur Entstehung der Charta77 führte.
Die Musiker, die wegen dieser Repressionen in den realen Untergrund getrieben wurden, waren in den neuen Bedingungen bald heimisch. 1977 fand in Vaclav Havels Landhaus ein Untergrundfestival statt, wo neben PPU auch andere verbotene Gruppen und Liedermacher spielten. Auf diesem Festival spielten die PPU schon ein anderes Repertoire. Die mythologische Stilisierung verschwand, und die Texte englischer und anderer Mystiker wurden von der brutal realistischen Poesie des Prager Dichters Egon Bondy abgelöst. („Wer heute zwanzig ist,/ der muß vor Ekel sich erbrechen/ Wer heute vierzig ist,/ hat noch viel mehr zu kotzen/ Und erst wenn er sechzig ist,/ kann er mit seiner Sklerose ruhig schlafen gehen.“) Egon Bondy, mit bürgerlichem Namen Zbynek Fiser, Doktor der Philosophie, ist ein jahrelanger Freund des bekannten tschechischen Schriftstellers Bohumil Hrabal, in dessen Erzählungen aus den 50er Jahren er auch sehr oft selbst dargestellt ist. Die Kompositionen mit Bondys Texten sind auch auf der ersten LP Egon Bondy's Happy Hearts Club Banned aufgenommen, die 1978 in Frankreich erschien. Die Bänder wurden 1974 in Prag heimlich aufgenommen und dann über die Grenze geschmuggelt. In den folgenden Jahren veröffentlichten PPU drei weitere LPs, in gleicher Weise produziert, einige wurden in Vaclav Havels Landhaus aufgenommen.
Diese Platten, Passion Play, Leading Horses und Midnight Mouse zeighen die weitere musikalische Entwicklung. Der dissonante Klang ist harmonischer geworden. Alle diese Platten wurden bei einer amerikanischen Tournee der Gruppe Pulnoc (Mitternacht) im Mai 1989 in Zeitungen wie 'Village Voice‘ und 'The New York Times‘ gelobt. Diese Band ist im Grunde eine Fortsetzung der PPU, weil da drei Musiker aus der ursprünglichen Gruppe spielen. Auch in den Texten konnte man eine Entwicklung spüren, PPU vertonten nicht nur Bondys Gedichte, sondern auch Gedichte von anderen tschechischen Dichtern, wie zum Beispiel Ivan Wernisch (eine Auswahl seiner Gedichte soll bald bei dem Verlag „Friedenauer Presse“ in Berlin erscheinen), aber auch von Christian Morgenstern...
Eine weitere Gruppe, die mit PPU in Havels Landhaus spielte, war DG307. In dieser Gruppe spielten zwar einige PPU-Musiker, aber ihre Musik war brutaler und rauher. DG307 entstand schon im Jahr 1973 aus der Freundschaft zwischen Milan Hlavsa (musikalischer Leiter der PPU und Pulnoc) und dem Dichter Pavel Zajicek. Verglichen mit PPU waren DG307 wesentlich freier von allen Rockkonventionen. Ihre Musik ist trotz ihrer Rauheit, die manchmal an frühe Musik der Fugs erinnert, im Grunde ein Appell an die ganze Gesellschaft. Wenn DG307 schreien: „Ein Symbol der Degeneration, das sind wir“, handelt es sich nicht um schwarzen Humor - es ist Selbstreflexion einer Generation, deren Ausdrucksform die Musik ist.
Zum Namen: DG307, das ist eine psychiatrische Diagnose für dauernde Anpassungsschwierigkeiten. Die Gruppe DG307 war ein Verzweiflungsschrei von Leuten, die unfähig waren, sich der Welt anzupassen, die ihnen die totalitäre Diktatur aufzuzwingen suchte.
Außerhalb des Untergrunds begann unter den schon deformierten kulturellen und politischen Umständen der 70er Jahre neue Gruppen zu entstehen. Diese Gruppen wollten ganz legal spielen und gleichzeitig ihre künstlerische Freiheit behalten. Im Gegensatz zum Underground, der alle Institutionen ablehnte, begannen diese Musiker neue, alternative Institutionen zu gründen. Eine der bedeutendsten dieser Institutionen war die Jazzsektion. Diese unabhängige Organisation für zeitgenössische Kunst und Musik wurde 1971 gegründet und hat sich im Lauf der Zeit mehr und mehr der alternativen Szene gewidmet. Jedes Jahr wurden Jazztage organisiert, wo nicht nur alle diese Gruppen, sondern auch Gruppen aus ganz Europa spielten. Die Jazzsektion veröffentlichte eine Zeitschrift für zeitgenössische Musik und Kunst, organisierte verschiedene Vorlesungen, arbeitete als pädagogisches Zentrum, gab verschiedene Bücher und Materialien heraus. Diese Aktivität wurde den offiziellen Stellen immer unangenehmer, und weil alles, was anders war, in den Augen des Regimes gefährlich war, wurde auch die Jazzsektion nach langen Kämpfen aufgrund verfälschter und fiktiver Beschuldigungen und Beweise aufgelöst - am Ende hatte sie über 10.000 Mitglieder. Drei Leute aus der Führung wurden zu einem Jahr Knast verurteilt. (Das ist aber nicht ungewöhnlich: Ivan Jirous von PPU hat wegen seiner kulturellen Aktivität insgesamt achteinhalb Jahre im Knast gesessen!) Die Jazzsektion arbeitet seit Juli 1989 weiter, unter dem neuen Namen Artforum.
Eine der bedeutendsten dieser alternativen Gruppen war die Band Extempore, die heute als MCH Band spielt. Spiritus rector dieser beiden Gruppen ist der Multiinstrumentalist Mikolas Chadima (geboren 1952). Chadima ist schon lange Zeit eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der tschechischen unabhängigen Rockszene. Als Mitglied vieler alternativer Gruppen trat er auf zahllosen legalen und illegalen Konzerten auf. Die Folgen seiner kulturellen und politischen Aktivitäten (Chadima hat 1979 die Charta77 unterschrieben) waren ununterbrochene Verfolgungen durch die Geheimpolizei, Verhöre, usw. Alle diese Erfahrungen mit der Macht hat er in seinen fast 700 Seiten umfassenden Erinnerungen beschrieben. Obwohl er viele Einladungen aus dem Westen und Osten bekam, konnte er nicht im Ausland spielen, weil ihm zwischen 1972 und 1989 der Reisepaß von der Geheimpolizei beschlagnahmt wurde. Lediglich 1981 durfte er nach England reisen - die Geheimpolizei versuchte ihn zur Emigration zu zwingen - und zusammen mit Musikern von The Work, Art Bears und This Heat konnte er in London seine Musik spielen. Erst dank der „samtenen Revolution“ im Oktober 1989 ist es ihm gelungen, ein paar Konzerte in Dänemark und Polen zu machen.
1978 gründete Chadima seine Extempore. Diese Gruppe hat eine komplizierte Entwicklung hinter sich. Alle diese Wandlungen sind auf zu Hause aufgenommenen Kassetten zu hören. Diese Kassetten wurden dann mit großem Risiko geheim vervielfältigt und verteilt. (Einige dieser „Vervielfältiger“ wurden zu bis zu drei Jahre Knast verurteilt.) 1981 entstand aus Extempore eine neue Gruppe, MCH Band, die bis heute existiert. Für die MCH Band ist typisch, daß sie in letzter Zeit deutsch geschriebene Gedichte von Ivan Wernisch und deutsche Gedichte von Jürgen Fuchs vertont. Das kann man zum Beispiel auf der vorletzten Kassette Gorleben hören, die nach dem gleichnamigen Gedicht von Jürgen Fuchs über eine ökologische Demonstration benannt ist.
Das Wichtige für alle diesen unabhängigen Gruppen ist ihr politischer Charakter. Es ist egal, ob sie direkt über Politik singen oder nicht. Ihr politischer Charakter äußert sich schon in ihrer Existenz, in ihrer Haltung zu der Gesellschaft und zu der offiziellen Kulturpolitik. Deshalb waren diese Gruppen für das Regime so gefährlich. Die Musiker zeigten den jungen Leuten eine Alternative. Und gerade diese Alternative erschreckt jedes totalitäre Regime am meisten. Jetzt kann man sagen, daß auch diese Gruppen geholfen haben, die totale Macht in der Tschechoslowakei stürzen.
Es ist klar, daß in der Tschechoslowakei auch andere bedeutsame Gruppen existieren. Dank mehr als zwanzigjähriger Tradition hat sich in der unabhängigen Szene ein breites Spektrum entwickelt, das von Punk und Garagen-Bands bis zum Minimalismus und verschiedenen Experimenten reicht. Man kann nur hoffen, daß jetzt auch die HörerInnen im Westen die Möglichkeit haben, diese Musik zu hören. Bald werden legale LPs erscheinen, die Bands bereiten ihre Tourneen vor.
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