: Vertuschungsversuch in Sellafield
Britische Regierung will Leukämieuntersuchung untersuchen lassen / Atommanager stellen sich doof / Betroffene Eltern wollen nun vor Gericht klagen / Schwerer Zwischenfall in einem AKW bekannt geworden ■ Von der Insel Ralf Sotscheck
Der am Freitag veröffentlichte Gardner-Bericht über Leukämie bei Kindern liegt der britischen Atomindustrie wie ein Stein im Magen. Die Atommanager versuchen mit allen Mitteln ihre Haut zu retten. Professor Gardner von der Universität Southampton hatte in einer neuen wissenschaftlichen Untersuchung nachgewiesen, daß das Leukämierisiko für Kinder bis zu zehnmal höher ist, wenn der Vater der Kinder in den sechs Monaten vor der Zeugung einer radioaktiven Strahlung ausgesetzt war.
Verschiedene Vertreter der Atomindustrie wollen Gardners Bericht nun zu ihren Gunsten wenden. Sie behaupteten am Wochenende, Gardner führe die hohe Leukämierate in der Region West-Cumbria lediglich auf die Mutation von Spermien zurück, jedoch nicht auf kontaminierte Lebensmittel, verseuchtes Wasser oder andere umweltschädigenden Einflüsse aus Sellafield. Demnach sei Atomkraft nicht umweltgefährdend. Gardner hatte bei seinen Forschungen in Sellafield (Windscale) festgestellt, daß auffallend viele Väter von Leukämie-Opfern in den „heißen Bereichen“ der Wiederaufbereitungsanlage gearbeitet haben. Es reiche jedoch schon eine Strahlendosis, die bisher als ungefährlich galt, um eine genetische Veränderung der Spermien auszulösen. In dem Ort Seascale, wenige Kilometer von Sellafield entfernt, beträgt die Leukämierate das Zehnfache des Landesdurchschnitts. Die Eltern von 35 Leukämie-Opfern wollen nun gegen das Atomunternehmen Klage bei Gericht einreichen. Noch vor zehn Tagen hatte der Pressesprecher der Atomanlage von Sellafield, Kelly, in einem Gespräch mit der taz die Klagen zynisch als „Zeit- und Geldverschwendung“ bezeichnet.
Die britische Regierung reagierte am Freitag prompt auf den Gardner-Bericht: Zwei führende Sicherheitsexperten wurden mit der Untersuchung der Gardner-Untersuchung beauftragt. Ein Bewohner Seascales sagte: „Selbst nach einem Super-GAU würde die Regierung zuallererst eine Untersuchung einleiten.“ Auch der ehemalige Sellafield-Arbeiter George Campbell ahnt Böses: „Die Sellafield-Bosse werden immer neue Untersuchungen fordern, es wird ein bißchen Geschrei geben, und am Ende passiert gar nichts. Wer hier auf Arbeit angewiesen ist, muß sich mit der Atomindustrie arrangieren.“
Für die britische Atomindustrie bewahrheitete sich an diesem Wochenende die Weisheit, daß ein Unglück selten allein kommt. Der Vorsitzende der britischen Liberalen, Ashdown, behauptete am Samstag, daß zwei Reaktoren des Atomkraftwerkes Hinkley B in Somerset vor acht Tagen nur durch viel Glück an einer Kernschmelze vorbeigeschrammt seien. Der Sturm hatte die Stromzufuhr für die Kühlanlage der Anlage 20 Minuten lang unterbrochen. Nur weil die Reaktoren zufällig abgeschaltet waren, sei es nicht zu einer Katastrophe gekommen. Er verlangt eine offizielle Untersuchung des Vorfalles.
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