Im „Provisorium“ Bonn beginnt das große Zittern

Im Bonner Fußvolk geht die Panik um. Mag in den oberen Regierungsetagen der Atem der Geschichte wehen, die unteren Chargen haben längst kalte Füße vor der Wiedervereinigung bekommen. Kein Kneipengespräch, kein Party-talk ohne diese Horrorszenarien der kleinen und mittleren Angestellten. Vorbei die Zeiten, als man sich mit einem billigen Lippenbekenntnis zum Imitat Bonn bekannte und der alten Reichshauptstadt Berlin mit falschen Tränen nachweinte jetzt bangen jene fast 250.000 Menschen, die direkt oder indirekt von der Hauptstadtfunktion leben, um ihre Zukunft. Die Indikatoren sind überdeutlich: Immobilienpreise sinken, und Großinvestoren zeigen absolute Zurückhaltung.

Der Schock der Bonner sitzt tief, und er wird verstärkt, weil er die immer noch beschauliche Residenzstadt am Rhein zu einem Zeitpunkt trifft, zu dem man sich gerade freigemacht hatte von der lange auferlegten Bürde, ein Provisorium zu sein. Im Bau sind der neue Plenarsaal, (derzeit bei 270 Millionen Mark angelangt), die Bonner Kunsthalle (129 Millionen Mark), das „Haus der Geschichte“ (120 Millionen Mark), die üppig dimensionierten Landesvertretungen von Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Baden-Würtemberg, das fast fertiggestellte Gästehaus im nahen Siebengebirge (130 Millionen Mark). Das Verkehrsministerium (155 Millionen Mark) ist ebenso frisch fertiggestellt wie das Postministerium (200 Millionen Mark), die sich in den Scheiben des einen Monat alten Maritim -Kongreß-Zentrums (100 Millionen Mark) spiegeln. Auch das Verteidigungsministerium hat seinen Ausbau für 200 Millionen Mark abgeschlossen. Ausgehoben ist bereits die Baugrube einer neuen Bundestagsverwaltung (640 Millionen Mark). Vor dem Baubeginn standen auch neue Gebäude für den Umweltminister, den Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Bundesrat - allesamt für jeweils weit über 100 Mio. Mark.

Das ist nun alles Makulatur. Der Park ist gestrichen, und das Bundespresseamt bleibt, wo es ist. Doch „Ruinen“ werde man der Stadt beim Weggang nicht hinterlassen, versicherte der Kanzler vor Monaten zur Beruhigung der verschreckten Bonner. Demonstrativ wurden im Dezember der Stadt für die nächsten zehn Jahre 1,3 Milliarden Mark für die Belastungen durch die Hauptstadtfunktion zugesichert. Die Gesprächsrunde beim Bundeskanzler beschloß nun auch, die bereits im Bau befindlichen Projekte fertigzustellen und nur die noch nicht begonnenen Neubauten zu stoppen.

Inzwischen aber ist der rauschhafte Berlin-Wahn der Politiker - als sich der Bonner Oberbürgermeister Daniels (CDU) Mut zusprach mit der Selbstbeschwörung, der „Bund wird Bonn nicht zurücklassen wie ein Heerlager mit unvollendeten Baustellen“ - Ernüchterung gewichen. Die Zeiten, in denen der SPD-Abgeordente Conradi flapsig davon sprach, der überflüssige neue Plenarsaal könnte für die Bonner Uni das „schönste Audimax Deutschlands“ werden, sind vorbei. Gefragt wird nun, wie ein möglicher Umzug nach Berlin bewältigt werden kann und ob es eigentlich sinnvoll ist, Milliarden dort in Bonn zu verbauen, die anderswo dringender gebraucht werden.

Entgegen steht dem schnellen Wechsel nicht zuletzt, daß es in der alten Reichshauptstadt sowohl an notwendigen Gebäuden für die Ministerien als auch Wohnraum für die Tausenden von Bürokraten fehlt. Der Vorschlag, das Problem im Ringtausch zu lösen - beim Umzug nach Berlin die dort reichlich vorhandenen Bundeseinrichtungen und Ämtern in die Provinz nach Bonn zu schicken - wird im Regierungsviertel als relativ unrealistisch angesehen. Undenkbar erscheint es vielen andererseits, die familiär fest im Rheinischen verwurzelten Belegschaften der Ministerien überhaupt nach Berlin zu locken. Was auf die Bundesregierung dann zukommt, hat der Deutsche Beamtenbund bereits angerissen: bei einem Zwangsumzug müsse es massive Entschädigungen geben, insbesondere für die Eigenheimbesitzer.

In Kreisen der Bundesregierung neigt man deshalb zu der Idee, beide Städte sollten sich die Hauptstadtfunktion teilen. Bei manchen ist das nicht nur Pragmatismus; es schwingt auch ein stilles Unbehagen mit, das historisch so belastete Berlin wieder ungebrochen zur Schaltzentrale eines geeinten Deutschlands zu machen - und damit die Bonner Republik zum geschichtlichen Zwischenspiel. So könnte Berlin als Hauptstadt die Parlamentarier beherrbergen, und Bonn bliebe als Regierungs- und Verwaltungszentrale erhalten. Arbeitsminister Blüm (CDU) möchte gar nur den Bundespräsidenten als Symbol der neuen Einheit nach Berlin überstellen. Das hätte auch praktische Vorteile, denn ob die Kommunikations- und Transportprobleme einer weitgehenden Trennung von Legislative und Exekutive zu bewältigen wären, kann derzeit keiner sagen.

Gerd Nowakowski