piwik no script img

Wird „Barackia“ geräumt?

■ Grenzstreifen am Kreuzberger Leuschner Damm mit Bauwagen besetzt / Zoff zwischen Alt- und Neusiedlern: Bauwagenbewohner vor der Mauer sind sauer

Heute früh sollen Grenztruppen der DDR gegen Bauwagenbewohner vorgehen. Dies kündigte gestern der Pressesprecher des „Grenzbereichs Mitte“, Oberstleutnant Rainer Menzel, an. Es sei denn, daß die etwa 20 Jugendlichen, die in der Nacht zu gestern den Mauerstreifen am Leuschner Damm mit sechs Bauwagen besetzten, heute früh um 6 Uhr wieder verschwunden sind. Ob die Besetzer Menzels Aufforderung Folge leisten wollen, war unter ihnen bis Redaktionsschluß noch nicht entschieden. Sie hatten vorgestern ihre sechs Wagen auf den Grenzstreifen gerollt, nachdem sie den Absperrzaun durchschnitten hatten. Der Zaun ersetzt die Mauer, die an dieser Stelle vor drei Wochen abgerissen worden ist. In einem Flugblatt schreiben die Grenzbewohner, daß sie mit ihrer Aktion „ein deutliches Zeichen gegen die Notschlachtung“ der DDR setzen wollten. Mit ihrer Wagenburg („Barackia“) wollen sie auch zeigen, daß „man weitgehend unabhängig von Geld ein menschenwürdiges, kollektives, herrschaftsfreies Leben gestalten“ könne. Sie fordern für sich ein „staatenloses Niemandsland“.

Oberstleutnant Menzel war von dieser Idee nicht begeistert. Gegen die Besetzung hatte Menzel aber nur ein formales Argument. Es sei ein Verstoß gegen „internationales Recht“. Daß dieses Recht im momentanen Berliner Vereinigungstaumel so gut wie keine Rolle mehr spiele, räumte selbst er ein. Bis zu den Wahlen am 18. März würden bei den Grenztruppen keine bedeutenden Entscheidungen mehr getroffen werden. Doch bis dahin wolle man die Besetzerburg nicht dulden. Sie würde sonst weiter anwachsen.

Durch die unerlaubte Nutzung des Grenzstreifens sei gestern eine Baumpflanzaktion des Westberliner Künstlers Ben Wargin vereitelt worden, behauptete Menzel weiter. Der Künstler sollte 400 Bäume anpflanzen. Am Leuschner Damm soll auf dem ehemaligen „Todesstreifen“ ein Park geplant sein.

In den sechs Wagen übernachteten gestern auch Ostberliner. „Aus Solidarität“, so ein 23jähriger mit Vollbart aus dem Ostteil. Ansonsten kommen die „Barackianer“ aus Westberliner Stadtteilen oder von dem schmalen Streifen vor der Mauer am Leuschner Damm. Hier wohnen derzeit etwa sechzig Leute in den provisorischen Wohnmobilen, weil sie die Wohnungssuche aufgegeben haben und manche sowieso lieber in den provisorischen Unterkünften wohnen. Der erste Wagenbewohner kam im September letzten Jahres. Gestern war nicht nur er sauer auf die neuen Nachbarn. Die „alteingesessenen“ Bauwagenleute schimpften, weil mit der Grenzstreifen -Besetzung möglicherweise die Westberliner Polizei provoziert werde, auch die Wagen vor dem Zaun abzuräumen. Oberstleutnant Menzel dementierte allerdings die Gerüchte unter den aufgebrachten Wohnmobilisten. Die Westberliner Polizei würde „Barackia“ nicht räumen.

Dirk Wildt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen