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Demokratie nur für Deutsche?

Der in Leipzig lebende syrische Schriftsteller Adel Karasholi über Ausländerfeindlichkeit in der DDR  ■  E S S A Y

Auf der Demo in Leipzig mußte ich miterleben, mit welcher Aggressivität man den Lyriker Heinz Czechowski attakiert hatte, weil er den Mut besaß, gegen ein Transparent mit der Losung „Lieber tot als rot“ zu protestieren. Meine neunjährige Nichte, die in Berlin geboren wurde, darf neuerdings mit den Kindern, mit denen sie bis vor kurzem gespielt hatte, nicht mehr spielen. Die Spiele, so sagte man ihr, seien nur für Deutsche. Vom Einkaufskorb einer Araberin wurden die dreißig Brötchen, die sie kaufen wollte, weggenommen, weil sie den Ausweis nicht bei sich hatte. Die Kaufhalle, in der sie seit mehr als zehn Jahren einkaufen geht, befindet sich um die Ecke. Man kennt sie dort gut. Eine andere Frau wollte zwei Kilo Bananen kaufen. Man gab ihr nur drei Bananen, da sie ihre zwei Kinder mitführte. Die restlichen wollte man ihr wegnehmen. Sie gab alle Bananen zurück und stürzte weinend hinaus. In der Nähe eines Studentenwohnheimes, wo auch ausländische Studenten leben, stand ein Transparent mit der Aufschrift „Demokratie nur für Deutsche“. Später setzte jemand ein Fragezeichen dahinter.

Nein, diese Tendenz ist keineswegs völlig neu. Sie kann nicht nur im Zusammenhang mit der letzten Entwicklung betrachtet und beurteilt werden; sie war auch früher unterschwellig vorhanden und in zunehmendem Maße in vielen Bereichen dieser Gesellschaft zu beobachten. Ich erinnere mich noch, wie ich vor einigen Jahren an einem Weihnachtsabend aus dem Fenster hinausschaute und auf dem frisch gefallenen Schnee auf der Heckscheibe meines Wagens den Satz „Ausländer raus“ entdeckte. Das war ein Weihnachtsgeschenk, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

Die Geschichte lehrt, daß Randerscheinungen, die als solche unterschätzt wurden, unter bestimmten Bedingungen den Rand durchbrachen, um ihre dunklen Schatten auf das ganze Umfeld menschlichen Daseins zu werfen und Unheil zu stiften. Auf die Gefahr einer Eskalation muß aufmerksam gemacht werden. Jeder Einzelfall in dieser Richtung ist ein Fall zuviel.

Als das Kommunalwahlrecht für Ausländer aus propagandistischen Gründen in aller Eile erlassen wurde, wollte ein Redakteur mit mir als einem in Leipzig lebenden „prominenten Ausländer“, wie er sich ausdrückte, ein Interview für den Rundfunk führen. Ich sagte ihm, er solle sich einen anderen suchen, da er sowieso nicht senden können, was ich dazu zu sagen hätte. Diese Episode habe ich in einer Diskussion über dieses Thema erwähnt und ich fügte hinzu: Erst wenn den DDR-Bürgern das Wahlrecht gewährt wird, erst dann würde es mir eine Ehre sein, mitwählen zu dürfen. Ein Zuhörer sagte mir anschließend, ich könne mir ja solche Äußerungen erlauben, da ich Ausländer sei. Was könne mir auch passieren? Höchstens würde man mich ausweisen. Diesen Satz habe ich mir des öfteren anhören müssen, als wäre das für mich die leichteste und einfachste Sache der Welt.

Oft mußte ich mir auch die Frage, die stets als Vorwurf gestellt wurde, anhören: „Wenn es dir hier, bei uns, nicht gefällt, warum gehst du nicht in deine Heimat zurück?“ Diese Frage ist nicht unberechtigt, da ich in vielen Lesungen, Diskussionen und Gesprächen klarstellen mußte, daß ich weder im Exil noch aus politischen Gründen in der DDR lebe. Ich besitze meinen syrischen Paß, ich fahre fast jedes Jahr in meine Heimat, und ich werde sogar offiziell zu Lesungen und Theaterfestivals eingeladen. Zurückkehren kann ich aber trotzdem nicht so einfach, wie man es sich vorstellt, schon aus einem ganz praktischen Grund: Ich kann nämlich die durch meine Arbeit in der produktivsten Hälfte meines Lebens erworbenen Ersparnisse nicht transferieren, um mir in meinem Land wenigstens eine kleine Wohnung zu kaufen, die inzwischen unerschwinglich wurde. Natürlich hätte ich auch jederzeit, wie mir nahe gelegt wurde, in die BRD gehen können, wo das Ausländergesetz viel liberaler als das in der DDR noch geltende Gesetz ist, auch ohne Sperranlagen durchbrechen und über Zäune klettern zu müssen.

Ich lebe und arbeiter aber in diesem Land immerhin seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren noch immer mit derselben Frau verheiratet, was in diesen Breiten nicht unbedingt selbstverständlich ist. Meine beiden Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Ich habe sogar eine Enkelin, und Großväter wissen, was Enkelkinder für Großväter bedeuten. Außerdem verbinden mich mit dieser Stadt trotz stinkender Luft und verfallener Häuser Freundschaften, Erinnerungen und Augenblicke, die unter meiner Haut nisten, worüber kein Gras wachsen kann.

Höchstens ausweisen also? Ja, mit dieser Angst mußte ich tatsächlich in den letzten Jahren leben, da ich Unrecht und Lüge als Unrecht und Lüge erkannt habe und nicht bereit war zu schweigen, wo es zu reden galt. Diese Angst war nicht abwegig. Mein Aufenthalt in der DDR ist, auch nach so vielen Jahren, an meine Arbeit an der Universität gekoppelt. Auf den Erwerb eines ständigen Wohnsitzes habe ich verzichten müssen, da er an Bedingungen geknüpft war, die ich für entwürdigend hielt und halte. Einige willkürliche Maßnahmen gegen mich haben mich in meiner Angst bestärkt, und immerhin hieß es im „Ausländergesetz vom 28.Juni 1979“ schwarz auf weiß, die Aufenthaltsgenehmigung „kann zeitlich und örtlich beschränkt, versagt oder für ungültig erklärt werden. Die Entscheidung bedarf keiner Begründung.„

Dieser Satz hing in den letzten Jahren über meinem Leben wie ein Damoklesschwert. Aber wer an eine Lüge als eine Wahrheit glaubt, kann nicht der Lüge bezichtigt werden, sondern des Irrtums. Ein Irrtum kann revidiert werden, eine Lüge nicht. Wer aber die Lüge als Lüge erkennt und trotzdem schweigt, macht sich schuldig an deren Verbreitung. So ähnlich hat sich einmal Robert Havemann geäußert. Ich habe meiner Frau gesagt, ich würde hierbleiben, solange ich bleiben kann, ich werde aber keinen Tag länger bleiben, den ich mit Lüge bezahlen muß.

Obwohl das, was ich hier zum Ausdruck bringe, persönlich anmutet, versuche ich trotzdem damit zu artikulieren, was heutzutage viele hier lebende ausländische Bürger bewegt.

Höchstens ausweisen also? Ich muß mich immer wieder fragen, was wohl denjenigen, die diesen Satz aussprachen, hätte passieren können, hätten sie sich gegen das gestellt, was sie für Unrecht und Lüge hielten. Höchstens hätten sie vielleicht den sogenannten, nicht definierten „großen Ärger“ hinnehmen müssen, der mit Sicherheit, besonders in den letzten Jahren, nicht immer ins Gefängnis geführt hätte. Wurden nicht durch Pflichterfüllung als Lebensmaxime und höchstes Ziel oder durch Bequemlichkeit und zuweilen durch Feigheit sehr oft humanistische Werte außer Kraft gesetzt?

Die Kolossalfiguren, in deren Schatten man zu stehen glaubte: Wer sind sie wirklich? Mit dieser Frage werden wir uns noch sehr lange beschäftigen müssen. Nicht nur Schriftsteller, sondern auch Psychologen, Soziologen und Historiker streiten sich ja heute noch über die Rolle, die die Eichmänner in der Geschichte spielten und spielen. Neue Kolossalfiguren gebärden sich schon jetzt auch wieder ziemlich kolossal. Und eine Demokratie, die Intoleranz zuläßt oder gar fördert, kann keine echte Demokratie sein.

Ich muß zugeben, daß die neue Zeit, die ich begrüße, weil ich darin eine wirklich historische, menschheitliche Chance sehe, mich zugleich verwirrt. Ich bitte, mich zu verstehen, wenn ich sage, ich brauche eine Atempause, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Denn meine Sorge ist genauso groß wie meine Hoffnung. Mögen jedoch die neuen demokratischen Strukturen, die man in diesem Land ernsthaft zu schaffen versucht, alte Mechanismen nie wieder zulassen, die der Vergangenheit auf ewig angehören sollten.

Viele Visionen und Hoffnungen sind in diesem Land enttäuscht worden. Zu den Träumen aber, die unbedingt bewahrt werden müssen, gehört der Solidaritätsgedanke, der heutzutage dringender denn je nötig geworden ist, auch wenn die vergangene Zeit diesen Gedanken deformiert und diffamiert hat. Ein ungeheuer weiter Horizont hat sich eröffnet, vielleicht auch langfristig für die Menschen in der Dritten Welt, obwohl manchmal der Eindruck entstehen muß, die Welt ende an der Grenze der beiden Deutschland.

(gekürzt)

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