Ratlose Starbesetzung

■ „Wohin geht der Osten?“ - Auch das exklusive Pariser Colloquium weiß es nicht / „Zeit ist die knappste Ressource“

Paris (taz) - Eingeladen wurde Petr Pithart noch als Vorsitzender des Prager Bürgerforums - das Wort ergriff er schon als neuer Premierminister der CSSR. So schnell ändern sich die Verhältnisse, während die Denker noch an Fragen wie „Wohin geht der Osten?“ heruminterpretieren, wie am Montag in der Pariser Sorbonne.

„Zeit ist die knappste Resource“, warnte Willy Brandt gleich zu Beginn. Die Handelnden machen Geschichte, ohne die Zeit zu haben, auf Konzepte warten zu können. Ministerpräsident Petar Roman, der bodyguard-bewehrte Stargast aus Bukarest, sah sich in einem „determinierten Chaos“ improvisieren: „Auf dem Weg zur Demokratie müssen wir mit den alten Strukturen arbeiten.“

Für den Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie gebe es kein Konzept und keine Theorie, meinte auch Romans Landsmann, der Zeichner Teodorescu. Selbst Spaniens Erfahrungen seien, so Madrids Kulturminister und Schriftsteller Jorge Semprun, nicht übertragbar: „Der Frankismus war kein Totalitarismus. Es gab in seinen letzten Jahren eine Marktwirtschaft und eine Zivilgesellschaft.“

Als Wegweiser der ratlosen Akteure haben folglich Allzweck -Konzepte wie das der Sozialdemokratie zu dienen, die „wirtschaftliche Effizienz“ (Gregor Gysi) mit dem „europäischen Erbe an Werten“ (Bronislaw Geremek von der Solidarnosc) verbinden soll. Das ist ebenso löblich wie wolkig: Letztlich machten den Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus, bemerkte da schlicht Frankreichs ehemaliger Finanzminister Edouard Balladur, einige Prozentpunkte der Staatsquote aus.

Sorge machte den Eingeladenen aus Ost und West der Mangel an „politischer Kultur“ in den neuen Demokratien, ein Mehrparteiensystem sei dafür keine ausreichende Bedingung, waren sich Brandt und Geremek einig. Nach dem Wegfall der alten Symbole, so auch Adam Michnik, entstünde ein Vakuum, in dem die Menschen zunächst zu den Wurzeln der eigenen Identität zurückkehrten. Das berge die Gefahr nationalistisch-autoritärer Bewegungen, sei aber, ergänzte Semprun, nicht mit der nationalen Selbstbehauptung zu verwechseln, die Teil der antitotalitären Demokratisierung sei.

Als Chef der Parlamentsfraktion der Solidarnosc forderte Geremek das Mitbestimmungsrecht Polens bei den „4+2„ -Verhandlungen und stellte klar: „Die Oder-Neiße-Grenze kann nur durch einen Krieg verändert werden.“

P. S. Wie schnell sich die Verhältnisse ändern, mußte auch Gregor Gysi erfahren. Die französische Botschaft der DDR hielt es schon nicht mehr für nötig, den PDS-Vorsitzenden vom Flughafen abzuholen.

smo