: „Zur Obdachlosigkeit und zum Betteln gezwungen“
■ Stahmer interveniert auf Stadtratsitzung zugunsten von Flüchtlingen / Arbeitskreis Christen appelliert an Momper / Sozialämter erhalten Nachhilfematerial zum Thema Flüchtlinge / In den dringendsten Fällen helfen inzwischen Kirchengemeinden und private Spender aus
In einem offenen Brief hat der „Arbeitskreis katholische Christen für Flüchtlinge“ an den regierenden Bürgermeister Momper appelliert, nachdem einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen von Bezirksämtern die Sozialhilfe verweigert wird. „Es ist für uns unerträglich, daß Menschen, die sich im Vertrauen auf eine humanitäre politische Entscheidung sicher wähnten, nun durch den Entzug der Sozialhilfe entweder zur Obdachlosigkeit, zum Verelenden oder zum Betteln gezwungen werden“, heißt es wörtlich. Wie berichtet, haben in den letzten Monaten mehrere Bezirksämter Flüchtlingen die Sozialhilfe verweigert, nachdem diese gemäß der Weisung des Innensenators Pätzold vom Juni 1989 ihre Asylanträge zurückgezogen und stattdessen eine Aufenthaltserlaubnis beantragt hatten. Für einige Sozialämter - vor allem Wilmersdorf, Wedding, Schöneberg, Tempelhof, Tiergarten, Charlottenburg und Neukölln - war dies Anlaß genung, die Betroffenen zu Wirtschaftsflüchtlingen zu erklären und die Sozialhilfe zu verweigern. Stattdessen wurde ihnen die Heimreise nahegelegt - in einigen Fällen sogar die Abflugzeiten der nächsten Maschine in den Libanon beigeheftet.
Ob dieser Skandal mit dem offenen Brief des Arbeitskreises zur Chefsache des Regierenden erklärt wird, ist angesichts dessen deutschlandpolitischen gefüllten Terminkalenders unwahrscheinlich. Allerdings hat sich die Vizechefin und zuständige Sozialsenatorin mit Nachdruck eingeschaltet. Nach der gestrigen Sitzung der Sozialstadträte hofft man im Hause Stahmer auf eine Lösung des Problems. Wie Staatssekretär Armin Tschoepe auf Anfrage erklärte, wird den Bezirken zusätzliches Informationsmaterial über die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zugeschickt - damit will die Sozialverwaltung den SachbearbeiterInnen und SozialstadträtInnen offenbar mit Nachdruck deutlich machen, was täglich den Zeitungen zu entnehmen ist: daß im Libanon und Sri Lanka Bürgerkrieg herrscht, im Iran politische Verfolgung droht, und in Äthiopien und Afghanistan blutige Machtkämpfe auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen werden. Sozialsenatorin Ingrid Stahmer habe während der Sitzung nochmals audrücklich betont, daß SachbearbeiterInnen eines Sozialamtes Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis nicht noch einmal auf ihre Verfolgung im Heimatland zu überprüfen haben. Also könne, wenn überhaupt, nur in begründeten Ausnahmen die Sozialhilfe verweigert werden dann nämlich, so Tschoepe, wenn der Betreffende nicht sozialhilfebedürftig ist. „Und da muß einer schon mit dem Mercedes vorfahren.“ Was bei den Sozialhilfesätzen und Arbeitsmarktchancen von Flüchtlingen eher unwahrscheinlich ist.
Da die anwesenden Sozialstadträte dieser Argumentation gestern weitgehend zugestimmt hätten, glaubt Tschoepe, daß sich das Problem in Kürze erledigt hat. Eine Ausführungsvorschrift der Sozialsenatorin, die eine einheitliche Praxis der Bezirksämter zugunsten der Flüchtlinge weitgehend regeln könnte, hält er für zu umständlich, weil zeitaufwendig.
Währenddessen sehen nicht nur die betroffenen Flüchtlinge, sondern auch die MitarbeiterInnen von Beratungsstellen und Wohlfahrtsverbänden ihre Geduld überstrapaziert. In Heimen des Deutschen Roten Kreuzes üben sich die SozialarbeiterInnen in Improvisationskunst, um Flüchtlingsfamilien, denen die Kostenübernahme verweigert wird, vor der Obdachlosigkeit zu bewahren. In einigen Fällen sind inzwischen Kirchengemeinden und private Spender eingesprungen.
Als besonders findig erweisen sich offenbar einige Sozialämter, die Flüchtlingen die Ablehnung ihre Sozialhilfeanträge unterbreiten. Gustav Neunzig vom Sozialdienst für Nichteuropäer der Caritas sieht sich hauptsächlich damit beschäftigt, IranerInnen, ÄthiopierInnen oder TamilInnen finanziell mit dem Allernötigsten zu versorgen, „weil die Sozialämter versagen“. Auf die Frage, wie sie an die Caritas geraten seien, hätten viele Flüchtlinge berichtet, das Sozialamt habe sie hergeschickt.
anb
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