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Der Zug ist abgefahren - aber wohin?

Günter Grass über Rudolf Augstein, den 'Spiegel‘ und die deutsche Frage  ■  D O K U M E N T A T I O N

Wer in diesen Wochen den 'Spiegel‘ aufschlägt, wird jeden Montag aufs neue „wiedervereinigt“. Die notwendige Diskussion über die deutsche Frage fand und findet in dem Hamburger Nachrichtenmagazin nicht statt. Die Chefredaktion läßt zum Thema Deutschlandpolitik nur Beiträge drucken, die dem politischen Kredo ihres Herausgebers Augstein (Der Zug ist abgefahren) entsprechen. Opfer dieser politischen Linientreue ist jetzt schon zum zweiten Mal Günter Grass geworden. Nachdem seine Tutzinger Rede gegen die Wiedervereinigung zunächst von der Redaktion des Hamburger Blattes angefordert, dann doch nicht gedruckt worden war, beschwerte sich Grass bei Augstein im Anschluß an ein Streitgespräch fürs Fernsehen persönlich über die mangelnde Diskussionskultur des Hamburger Magazins. Augstein versprach Besserung. Grass nahm den Herausgeber beim Wort - erfolglos. Sein im folgenden dokumentierter kurzer Text erschien wiederum nicht im 'Spiegel‘. Grund: Der Schriftsteller hatte sich geweigert, der Aufforderung der Redaktion nachzukommen, den Satzteil zu streichen, wonach in Sachen Wiedervereinigung 'Spiegel‘, 'FAZ‘ und 'Bild'-Zeitung „auf regierungsamtliche Linie, das heißt, in Einklang“ gebracht werden.

Dieses Bild wird seit Wochen bemüht: der abgefahrene Zug in Richtung deutsche Einheit, den niemand mehr aufhalten könne. Merkt selbst Rudolf Augstein nicht, daß ein nicht mehr aufzuhaltender Zug, ein Zug also, den kein Signal mehr stoppen kann, als Zugunglück vorprogrammiert ist?

Wir haben für die Fernsehsendung Panorama ein Gespräch geführt, streitbar, aber fair. Nachdem mir der Abdruck meines Tutzinger Beitrags Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen von der 'Spiegel'-Redaktion verweigert worden war - er stand dann in der 'Zeit‘ zu lesen -, baten Sie mich, Rudolf Augstein, in Zukunft meine Beiträge direkt an Sie zu schicken. Ich tue das, wenngleich mir dieser Tribut an den Nachhall des „aufgeklärten Despotismus“ zuwider ist.

Im Gegensatz zu Ihnen: Karl Jaspers‘ Thesen aus dem Jahr 1960 sind in ihrer Substanz immer noch richtig. Freiheit steht vor Einheit. Also hat die vom Volk der DDR (und nicht vom Kapitalismus) erkämpfte Freiheit Vorrang; sie beansprucht Respekt und Eigenständigkeit innerhalb der nun möglichen Einigung der Deutschen. Weil Einigung mehrere Wege, auch einen dritten Weg, zuläßt, muß sie nicht, auf Teufel komm raus, Einheit bedeuten. Einigung kann auch in einer Konföderation der beiden deutschen Staaten ihren Ausdruck finden und gleichwohl die Wirtschafts- und Währungsunion, desgleichen eine Staatsangehörigkeit zulassen. Diese Antwort auf die deutsche Frage könnte dem Verlangen nach Einheit genügen und unseren Nachbarn gewiß annehmbarer sein als der 80-Millionen-Einheitsstaat. Zwar ist der Zug abgefahren, doch Bahnhöfe gibt es mehrere.

Ich wiederhole: Die grauenhafte und mit nichts zu vergleichende Erfahrung Auschwitz, die wir und die Völker Europas mit uns gemacht haben, schließt einen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er trotzdem mit nunmehr wirtschaftlicher Macht durchgesetzt werden, wird uns abermals nachbarschaftliches Mißtrauen umgeben und ausgrenzen.

Ich weiß nicht, aus welchen Quellen sich Ihr deutschnationaler Eigensinn speist und so in die hochfahrende Lage versetzt, die nach wie vor bedenkenswerten Thesen eines Karl Jaspers als nur philosophische Dreinrede abzutun, aber mit Sorge sehe ich, wie Sie Ihr Produkt, dieses unverzichtbare Stück demokratischer Streitkultur, 'Der Spiegel‘, auf regierungsamtliche Linie, das heißt, in Einklang mit 'FAZ‘ und 'Bild'-Zeitung bringen. Soll so die deutsche Einheit aussehen?

Zum ersten Mal nach 1945 ist uns Deutschen die Möglichkeit gegeben, aus Erfahrung mit uns selbst, einer Einigung Gestalt zu geben, mit der wir und unsere Nachbarn leben können. Diese Erfahrung lehrt, daß sich deutsche Einheit nur in ihrer geschichtlich gewachsenen Vielfalt begreifen läßt. Nichts zwingt uns, die DDR mit ihrer leidvollen Geschichte und der kurzen Phase ihrer demokratischen Revolution durch westdeutsche Wirtschaftsmacht einzuebnen. Die von mir angeratene Konföderation erlaubt Freiheit, Einigung und Vielfalt; das Einheitsgebot gehört auf den Müllhaufen unserer Geschichte. Zwar ist der Zug abgefahren, aber die Signale, ihn auf das richtige Gleis zu bringen, sind - seit Karl Jaspers‘ Thesen und bis heute - immer noch in Funktion.

Günter Grass

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