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Der Osten ist tot

■ Ich bin von der Pietät, ich bring das Brett...

Gabriele Goettle

Die Brüder und Schwestern in der ehemaligen SBZ können sich nun endlich auch mal was leisten: „bedingungslose Kapitulation“. Ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Offenbarungseid hat man hierzulande mit überschäumender Schadenfreude abgefeiert. Nach fünfundvierzig Jahren hat die BRD unverhofft den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Der Bolschewismus und seine Rote Armee ist an allen Fronten zusammengebrochen. Nichts hat Vormarsch und Endsieg der harten D-Mark aufhalten können.

Mit der Bescheidenheit und Demut, die dem Besiegten ansteht, haben die DDR-Nachlaßverwalter ihre fadenscheinigen roten Teppiche ausgerollt, bitten das Kapital ins Land und zeigen auf ihre Dächer, die ungedeckt sind. An den Rändern stehen die Werktätigen - Bestandteil der Konkursmasse jubeln und schwenken begeistert bundesdeutsche Fähnchen. Sie wollen endlich echte Lohnarbeiter sein, dafür geben sie jeden Mehrwert hin; wenn man ihnen nur schnell die knallbunte Vergnügungsbude dafür hinzimmert.

Schrecklich! Die Schlachthöfe in der DDR können ihren Plan wegen Personalmangels nicht erfüllen. In den LPGs der Tierproduktion stehen nun die Schweine larifari herum, fressen unnütz Futter und setzen unerbetenen Speck an. Hilfe ist angesagt, denn „Nicht nur in Bobitz warten weitere Schweine darauf, im Westen geschlachtet zu werden“.

Die Bonner Rotzlöffel laden sich derweil die Übergangsregierung vor den Hochstand, um sie vor der belustigten Jagdgesellschaft zu präsentieren. Für den Blattschuß läßt man sich Zeit. Herzig, mitanzusehen, wie Herr Modrow das kapitalistische Einmaleins ungeschickt an den Fingern nachzählt und sich dauernd furchtbar verrechnet. Kapitalismus, näher bekannt seit drei Monaten als „soziale Marktwirtschaft“, soll das Land sanieren, aber nur, wenn das Soziale die Priorität erhält. Alten, Kranken, Krüppeln und Müttern mit Kindern darf kein Schaden entstehen, und auch das Recht auf Arbeit muß gesichert bleiben. Zu all dem wird auch noch eine Soforthilfe erwartet. Die Jagdgesellschaft biegt sich derart vor Lachen, daß die Hochstände schwanken.

Daß das Kapital aber nicht akkumuliert zum sozialen Zweck, muß man dem sozialistischen Menschen nicht erklären, nur, was alles abgebaut werden muß an roten Errungenschaften, damit man auf den grünen Zweig kommt. Also weg mit den 30 Milliarden Subventionen für Lebensmittel, mit der Subventionierung von Arbeitsplätzen, Mieten, Betrieben, Kinderhorten, medizinischer Versorgung, Volkssolidarität, Schulspeisung usf. All das muß sich über den Markt regeln, über Steuern und Sozialabgaben. Bei uns geht es ja auch.

Also, Ihr Werktätigen. Schmeißt weg die Thälmannmützen, es winkt ein höherer Lohn in Westmark. In die Hände gespuckt und gearbeitet, daß euch Hören und Sehen vergeht. Gegenüber den Taiwanesen habt ihr nur einen Standortvorteil. Den Wegrationalisierten bleibt das soziale Netz und die Datscha.

Und Euch, Ihr Frauen, wird nicht länger die Doppelbelastung zugemutet. Hinaus aus der Produktion und Dienstleistung. Die Arbeitsplätze werden gebraucht. Im häuslichen Heim, bei Kindern und Küche liegt die Zukunft der Frau. Und nicht vergessen, Geburtenrückgang ist unerwünscht, über die Abtreibungsregelung wird noch zu sprechen sein.

Ihr Alten, was ist, wollt Ihr ewig leben? Hauswirtschaftspflege und das Essen der Volkssolidarität gehören einer finsteren Vergangenheit an. Der mündige Bürger sorgt für sich selbst. Und wem das Geld fehlt für ein privates Altenpflegeheim, wo menschenwürdiges Vegetieren im Preis inbegriffen ist, der muß Vorlieb nehmen im Feierabendheim mit Sechsbettzimmer. Eure faschistische oder antifaschistische Vergangenheit interessiert nicht, vor dem sozialen Tod sind alle gleich.

Und Ihr, Kranke, Krüppel, Alleinerziehende, aufgepaßt! Beeinträchtigungen der Produktivität und Mobilität mindern erheblich den sozialen Stellenwert und die Leistungsansprüche.

Ihr Mieter, die Hälfte Eures Einkommens ist nun wirklich nicht zu viel verlangt für den Mietzins, dafür, daß es nicht mehr durchregnet und kein Schimmel hinter Eurer Schrankwand wuchert. Der Hausherr möchte auch sein Scherflein ins Trockene bringen. Dafür kümmert er sich um alles, auch darum, daß Ihr schleunigst auszieht im Notfall.

Und nicht zuletzt, Ihr Ärzte! Nun heißt es Abrechnen. Krankheit ist eine Ware wie jede andere. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Frei praktizierend werdet Ihr die Kosten für das Gesundheitswesen zu ungeahnter Blüte treiben. Man wird Euch hilfreich zur Seite stehen, die Pharmakonzerne sind auch nur das Volk und wollen, was alle wollen.

Auch auf Euch, Ihr Juristen, warten große Aufgaben. Ein Konkursrecht muß her. Es wird Pleiten geben, daß die Kassen klingeln. Auch Wirtschafts- und Patentanwälten steht der Himmel offen. Wer es lieber ein wenig gemütlich haben will, den wird eine Beamtenlaufbahn demnächst von allen Sorgen des Lebens befreien.

Daß solch ein Umsturz aller Verhältnisse nicht selten zum Fehlen von Wohlstand, Eigentum und Freiheit führt, brodelt als dumpfe Angst vorwiegend in den Köpfen der Lohnabhängigen, die ahnen, wie wenig sie zu bieten haben. Der kindliche Glaube, daß das kapitalistische System, nur weil es die sozialen Interessen einschneidend berührt, diese auch berücksichtigen wird, schrumpft zusehends. Man ahnt bereits, daß die aufwendige Durchfütterung von Politbonzen und dem Machtapparat letztenendes billig kam im Vergleich zu dem, was man den neuen Bonzen nun wird hinblättern müssen, für ein bißchen Tinnef und dafür, daß man folgenlos das Maul aufmachen kann.

Die frühen, zarten Pflänzchen, die die DDR sich erlaubt hat selbst hervorzubringen, sind über Nacht eingegangen. Alle Überlegungen zu Autonomie und einem „dritten Weg“ sind verschwunden als hätte es sie nie gegeben. Einheit, Marktwirtschaft, Währungsunion, Investitionsverhandlungen sind das Diktat der Stärkeren, dem sich auch die hierzulande Schwächeren gebeugt haben. Wer heute noch gegen die Einheit und Heimholung ins Wirtschaftswunderreich plädiert, gilt als kommunistischer Depp, der nicht kapiert hat, daß der Zug nicht nur längst abgefahren, sondern bereits im Zielbahnhof angekommen ist.

Das an den östlichen Himmel projizierte Bild des Konsumparadieses schwebt wie eine Fata Morgana über den Köpfen. Mit der geballten Macht der Medien, des Kapitals und der Parteien schürt man in der DDR Panik und Hoffnung, schüttet alle raffinierten Wechselbäder über dem Land aus, zwingt es zu Beschlüssen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, treibt zu überstürzter Eile, lockt die Bürger aus dem Land, um ein Druckmittel zu haben und gleichzeitig Stimmvieh, das man für neun Monate bequem in Turnhallen und Containern einlagern kann. Geld gibt's erst nach den Wahlen, umsonst ist nur der Tod. Gewählt werden wird jene Partei, zu der man nur sagen kann: „Prost, Noske“, und es ist nicht einmal ein Trost, daß man mit ihr umspringen wird wie mit der Regierung Modrow.

Unterdessen strömen ganze Heerscharen von Herren mittleren Alters, mit Burburrys, Seidenkrawatten, Diplomatenköfferchen und Entscheidungsfreude ins Land. Sie knüpfen Geschäftskontakte, halten Tagungen ab, geben Blitzlehrgänge in Management, Werbe- und Wahlkampffragen, taxieren Mietshäuser, Grundstücke und Betriebe. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie schnell sprechen, in glattem Jargon und ohne sich Gedanken zu machen. Die DDR-Gesprächspartner in ihrer eingefleischten nachdenklichen und langsamen Art wirken schwerfällig bis halsstarrig. Daß die, die den Gleichschritt nicht schnell genug lernen, vielleicht etwas anderes meinen könnten, überschreitet das bundesrepublikanische Vorstellungsvermögen. Man oktroyiert der DDR nicht nur unsere Normen, sondern auch Begriffe, von denen man erwartet, daß ihr Bedeutungsinhalt absolut konvertibel sei. Diese großkotzige Vereinnahmung kommt mit jener mangelnden Achtung daher, die sonst Männer den Frauen gegenüber an den Tag legen. So verwundert es dann auch nicht, wenn die Preise gedrückt werden mit Aussagen wie: „Die Brautschau fällt vielerorts so katastrophal aus, daß spätere Heirat so gut wie ausgeschlossen ist.“

Aber auch Linke und Alternativler haben sich hierzulande den Gorbatschowschen Ausspruch eine Lehre sein lassen und wollen nicht vom Leben bestraft werden, nur weil sie zu spät kamen. Eine beachtliche Anzahl von Häusern und Bauernhöfen ist bereits über Strohmänner erworben, zu Preisen von 4.000 bis 20.000 Ostmark. Wer will schon im Alter unruhig durch Alleen wandeln, man ist auch nur ein Mensch. DDRler in Meißen und Umgebung haben den beabsichtigten Hauskauf bereits in den Wind geschrieben, angesichts der unerschwinglich werdenden Preise. Und wenn erst die Eigentumsverhältnisse auf der Rechtsbasis der Vorkriegszeit geregelt werden, wird das Wohnen für viele zum primären Problem werden.

Wir haben es wieder mal geschafft. Noch bevor die Revolution mit der Verspeisung ihrer Kinder beginnen konnte, haben wir sie ihr weggerissen, um sie durch Korruption zu erledigen. Zwei Arbeiter hielten unlängst in Leipzig ein Transparent hoch mit der Aufschrift: „Im vereinigten Deutschland leben wir so, wie einst das Politbüro.“ Ein schwarz-rot-goldener Alptraum senkt sich übers Land, der vereinigte Mief von Wandlitz und Oggersheim, ein deutsch -deutscher Stammtisch, besetzt mit allen die „dabei“ waren am 9. November. 1938 und 1989. Ausländer und Rote raus! Weg mit der Judensau Gysi und ihrer SED-PDS! Daß hier „zusammenwächst was zusammengehört“, ist nur für die Überlebenden unserer Konzentrationslager ein Deja-vu -Erlebnis.

Voriges Jahr hat Heiner Müller im Interview zu seinem sechzigsten Geburtstag uns folgenden sächsischen Spruch in „Leipziger-Gohlis“ gesagt: „Ich bin von der Pietät, ich bring das Brett. Die andern Bretter kommen später. Und morgen kommt auch noch son Arsch, der bringt den Deckel vom Sarg.“ Wer konnte ahnen, daß unsere Republik seiner Republik dieses passende Epitaph aufs Grabmal meißeln würde?

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