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Das Luder

■ Wassilij Pitschuls „Kleine Vera“, der erste „Perestroika„-Film aus 1988, jetzt endlich im Kino

Sowjetische Dokumentarfilme über Jugendliche laufen in der Regel darauf hinaus, daß die kaputten Eltern an den kaputten Kindern schuld sind und daß die Liebe alle Wunden hielt. „Kleine Vera“ ist ein Spielfilm über sowjetische Jugendliche, kaputte Familien und über die Liebe. Und er hat keine Moral.

Wassilij Pitschul, der Regisseur, war zur Drehzeit 27 Jahre alt. Sein Film wurde beinahe verboten, was bestimmt nicht an der „Beischlafszene“ liegt, wie sowjetische Zeitungen es nennen. Ungehörig an „Kleine Vera“ ist, daß der Film nichts lehrt. (Die Diskussion um das Verbot 1988 umging der Verleih übrigens geschickt und startete den Film als Video: für drei Rubel in Eisenbahnzügen.)

Die Staat ist häßlich. Industrie, Hafen, dreckige Luft, graue Häuser. Kameraschwenks wie im Dokumentarfilm. Veras Familie: Vater säuft, Mutter krank, Bruder aggressiv. Auf dem Küchentisch steht Eingemachtes. Zu essen gibt es Paprika, Tomaten, Melonen. Irgendwann kann man die Melonen nicht mehr sehen. Vera lungert herum. Noch kein Bescheid von der Berufsschule. Verschlafen steht sie auf dem Balkon, die Hände baumeln übers Geländer, gelangweilt spuckt sie Kirschkerne. „Rauch nicht. Hör auf deine Eltern“, sagt sie zum Vater. Mittags zieht sie los, hat sich aufgedonnert: das Haar steht ihr wirr vom Kopf, der Rock ist eng und sexy. Die Männer sind scharf auf sie.

Einer macht ihr den Hof, er muß zur See, will sie heiraten. Wenn er erst weg sei, werde sie ihn schon vermissen, sagt er. Sie hört gar nicht zu. Ein Fest im Park, die Miliz kommt dazwischen, prügelt und greift ab. Vera tritt einem Polizisten in die Eier und flüchtet. Sie trifft Sergej und fängt was mit ihm an. Eine Affäre, Sex, nichts Besonderes. Aber sie blüht auf, wird immer schöner, vergnügt, schlagfertig. Am liebsten kombiniert sie die einschlägigen Parolen mit selbstgemachten Lebensweisheiten. „Alle Menschen sind Brüder, aber warum haben sie dann so oft polierte Fressen.“ Oder sie dichtet zusammen mit ihrer Freundin pathetische Nonsens-Verse.

Die Familie ist empört. Das Luder. Also drehen Vera und Sergej den Spieß um. Sie wollen heiraten, ganz im Ernst. Nicht, um es recht zu machen, sondern um die Empörung der Eltern Lügen zu strafen. Sergej zieht sogar zu ihnen. Und Vera bringt abends den besoffenen Vater zu Bett. Sie denkt gar nicht daran, abzuhauen. Die Jugendlichen, die Familie: zwei Welten in einer Wohnung. Das kann nicht gut gehen. Ein Streit, eine Schlägerei, der Vater verletzt Sergej, lebensgefährlich. Vera sagt gegen Sergej aus, sie macht einen Selbstmordversuch. Sergej flüchtet aus dem Krankenhaus, die Mutter packt für den Bruder das Eingemachte in die Tasche. Sergej legt seinen Arm um Vera, der Vater stirbt in der Küche. Es ist das Herz.

Am Ende fällt keine Entscheidung. Es siegt nicht die Familie und auch nicht die Liebe. Sie sind alle Verlierer. Die Hochzeit ist auf den nächsten Tag angesetzt.

Christiane Peitz

Wassilij Pitschul: Die kleine Vera. Buch: Maria Chmelik, mit Natalja Negoda, Andrej Sokolow, UdSSR 1988, 136 Min.

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