: Ein Kohl schwimmt in Oder und Neiße
Regierungsposition zu Polens Westgrenze kommt erstmals ins Rutschen / Kohl mit gemeinsamer Erklärung beider deutscher Parlamente einverstanden / Die von Außenminister Genscher und der FDP geforderte „verbindliche Anerkennung“ der Grenze steht jedoch noch aus ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan
Bundeskanzler Helmut Kohl versucht die Frage der Oder-Neiße -Grenze trotz zunehmendem innen- und außenpolitischem Druck auch weiterhin offenzuhalten. Zwar ließ er am Dienstag abend Kanzleramtsminister Rudolf Seiters im ZDF sein Einverständnis damit verkünden, daß nach den DDR-Wahlen beide deutsche Parlamente eine Erklärung abgeben, in der die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze bekräftigt wird, und zeigte sich auch selbst im Kabinett einem solchen Wunsche durchaus geneigt. Damit bewegt Kohl sich erstmals auf einen Vorschlag zu, den Bundestagspräsidentin Süssmuth vor einiger Zeit gemacht hatte. „Eine ganz hohe, überragende politische Bedeutung“ maß gestern in Bonn Regierungssprecher Vogel einer solchen möglichen Erklärung zu.
Allerdings bedeutet dieser Positionswechsel in Richtung Süssmuth-Vorschlag nicht, daß der Kanzler die Oder-Neiße -Linie als Westgrenze Polens endgültig anerkennen möchte: Eine solche Erklärung wäre völkerrechtlich nämlich nicht verbindlich. Ob Helmut Kohl jüngsten Forderungen des Koalitionspartners FDP in dieser Frage nachkommen wird, blieb auch gestern unklar.
Als „unausweichlich“ hatte am Dienstag Bundesaußenminister Genscher eine definitive Regelung der Grenzfrage mit Polen bezeichnet. „Interessant und bedenkenswert“, so hatte Genscher in diesem Zusammenhang den Vorschlag des polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki kommentiert, wonach die BRD, die DDR und Polen schon bald einen Vertrag ausarbeiten und paraphieren sollten, der dann von einer gesamtdeutschen Regierung unterzeichnet und von einem gesamtdeutschen Parlament ratifiziert werden könne. Diesen Vorschlag soll Genscher in der gestrigen Sitzung des Bundeskabinetts dargestellt haben. Nach Aussage von Regierungssprecher Vogel wurde darüber allerdings nicht diskutiert.
Unklar blieb auch, ob sich die Bundesregierung auf andere mögliche Formen einer verbindlichen Anerkennung der Westgrenze Polens zubewegt. So könnte eine Absichtserklärung beider deutscher Parlamente zur polnischen Westgrenze dem KSZE-Treffen im November unterbreitet und dort notifiziert werden. Möglich wäre auch, daß die deutschen Parlamente eine solche Erklärung schon vor der Zuleitung an die KSZE selbst notifizieren und damit ihre Bedeutung erhöhen. „Darüber ist noch zu sprechen“ - so beantwortete Außenamtssprecher Chrobog gestern in Bonn die Frage nach den verschiedenen Möglichkeiten des Vorgehens. Zu sprechen sei laut Chrobog auch noch über die Frage, ob für die Anerkennung ein rechtsverbindlicher Akt notwendig sei - sprich: ob Außenminister Genscher und die FDP sich mit Absichtserklärungen unterhalb dieser Ebene zufriedengeben werden.
Am Dienstag hatte FDP-Chef Lambsdorff vor Spitzenpolitikern des amerikanischen Senats kritisiert, daß Kohl sich weigere, die polnische Westgrenze mit einem vereinten Deutschland schon jetzt endgültig zu garantieren. Unwahrscheinlich ist, daß die USA und Großbritannien sich mit der Wendung Kohls zufriedengeben. Nach dem Besuch des Kanzlers hatte die US -Regierung indirekt, aber deutlich Kohls unklare Position kritisiert, daß über die deutsche Ostgrenze erst ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament und eine gesamtdeutsche Regierung entscheiden könnten.
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