: Zu spät Gekommene
■ Gefährlich kurz gegriffener Schwenk in der Übersiedlerpolitik
Das Problem zeichnete sich seit Monaten ab, jetzt gestehen auch führende CDU-Politiker wie Lothar Späth oder Ernst Albrecht ein, daß es so nicht weitergeht. Die bevorzugte Aufnahme von Aus- und Übersiedlern ist für die Parteien längst zu einem Bumerang geworden, der ihnen unberechenbare Stimmverluste bescheren wird. Zu spät, viel zu spät, trauen sich unter dem Druck von Meinungsumfragen und Finanzkollaps nun auch CDU-Politiker zu fordern, wofür Oskar Lafontaine vor Wochen selbst innerhalb seiner eigenen Partei noch gescholten wurde: daß übersiedler aus der DDR nicht mehr mit staatlicher Fürsorge bei der Wohnungs- und Arbeitssuche rechnen können, sondern für ihr Leben in der Bundesrepublik genauso selbst verantwortlich sind wie Bürger aus Hamburg oder Garmisch-Patenkirchen. Diese Radikalkur, deren konsequentester Schritt die Schließung sämtlicher Notaufnahmelager wäre, wird den Übersiedlerstrom zwar nicht gänzlich eindämmen, aber doch verlangsamen.
Doch während hier mit einem Stück ideologisch verbrämter Politik aufgeräumt wird, wird schon an der nächsten Lüge weitergestrickt. Die Lüge heißt: der Wandel in der DDR und die Wiedervereinigung werden euch nichts kosten. Ihr werdet weiter in den Kissen unserer wohlgepolsterten Wohlstandsgesellschaft leben.
Doch wer heute durch unsere Städte geht, sieht daß die Veränderungen in Osteuropa längst in unsere soziale Realität Einzug gehalten haben. Die ersten Zeugen der Armut in Polen oder der geringen Kaufkraft der DDR-Alumark findet man als Kunden von aus dem Boden schießenden Billigläden, als Leiharbeiter, Schwarzhändler oder Prostituierte auf unseren Straßen. Der „Eiserne Vorhang“ ist gelüftet, und eine bisher verdrängte Wirklichkeit sagt Guten Tag. Sie wird unser Leben nicht nur ökonomisch mehr durcheinanderbringen, als uns allen lieb ist. Wer das beschönigt und gar von einem zu erwartenden Wirtschaftswunder spricht, (das dann aber doch nur wieder einigen wenigen zugutekommt) blufft auf gefährliche Weise. Wer den Menschen im eigenen Land nicht klarmacht, daß im Zeitalter des Welthandels, der Jet-Flüge und Telekommunikation ihre politische und soziale Verantwortung nicht am Alpenrand endet, riskiert ein Anwachsen des dumpfigen Fremdenhasses und Sozialneides. Nicht fromme Lügen sind gefragt, sondern die unbequeme Wahrheit, daß Wohlstand veränderbar und eben auch teilbar ist. Wer Kaffee aus südamerikanischen Billig-Ländern schlürft und in Ikea oder Quelle-Produkten made in DDR oder Taiwan haust, muß damit rechnen, daß irgendwann die Produzenten dieser Güter aus Süd und Ost vor der Tür stehen und ihren Anteil fordern.
Vera Gaserow
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen