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Runder Tisch beschloß „Sozialcharta“

Soziale Errungenschaften in der DDR sollen bei einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik bewahrt werden / International fortschrittlichste Regelungen in ein vereinigtes Deutschland einbringen / Gleichstellungsministerium wird empfohlen  ■  Aus Berlin Walter Süß

Auf seiner 15. Sitzung hat der zentrale Runde Tisch am Montag Eckpfeiler der künftigen Sozialpolitik verabschiedet, die die DDR-Verhandlungsposition bei der Schaffung einer „Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“ mit der BRD bestimmen sollen. Von den beiden MinisterInnen Tatjana Böhm (Unabhängiger Frauenverband) und Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte) wurde eine „Sozialcharta“ vorgestellt, die vom Ministerrat der DDR bereits gebilligt worden ist und die auch der Volkskammer vorgelegt werden soll.

Es handelt sich dabei um den Versuch, in den Vereinigungsverhandlungen sowohl den „sozialen Besitzstand“ der DDR-BürgerInnen zu sichern wie auch in die Neukonstitution eines gesamtdeutschen Staatswesens die jeweils international fortschrittlichsten Regelungen einzubringen.

Gefordert wird unter anderem eine verfassungsrechtliche Verankerung der Tarifautonomie, des Streikrechts und eines Aussperrungsverbotes. Die Unternehmen sollen - unabhängig von ihrer Eigentumsform - verpflichtet werden, den Beschäftigten Mitbestimmungsmöglichkeiten einzuräumen und bestimmte soziale Grundverpflichtungen zu übernehmen. Dazu zählen Betriebskindergärten, Einrichtungen für Veteranen, Angebot von Kantinenessen oder auch die Schaffung eines Betriebsgesundheitswesens. Jeder Bürger habe ein Recht auf gesundheitliche Betreuung, wobei es - anders als in der BRD

-eine Pflichtversicherung für alle Bürger geben soll. Der Staat soll verpflichtet werden, insbesondere auch um ältere BürgerInnen Sorge durch altersgerechte Wohnungen Sorge zu tragen. Hinsichtlich des Grundrechts auf Wohnen wird staatliche Aufsicht über die Mietpreise und Kündigungsschutz ebenso gefordert wie staatliche Maßnahmen zur Schaffung von Wohnraum.

Die Voraussetzung zur gesetzlichen Realisierung dieser Forderungen, die zum Teil „weit über das Grundgesetz der BRD hinausgehen“ (Poppe), ist, daß die Vereinigung nicht als Anschluß nach Artikel 23 vollzogen wird. Dennoch gab es kaum Einwände gegen dieses Dokument. Einzig die Frage war strittig, ob es sich - wie der LDP-Vertreter meinte - um einen Text mit „Übergangscharakter“ handelt, oder - wie etwa von der Vereinigten Linken betont wurde - um ein „Dokument des sozialen Denkens in diesem Land“, das es auch künftig zu bewahren gelte. Trotz dieser Differenz wurde die „Sozialcharta“ vom Runden Tisch angenommen.

Etwas heftigere Auseinandersetzungen gab es um eine mit dieser Charta eng verknüpfte Frage: die der Gleichstellung von Mann und Frau. Dieses Prinzip wurde von keiner der anwesenden Organisationen grundsätzlich in Frage gestellt. Eine gewisse Gewichtung im Umgang mit dieser Aufgabe war aber schon daran zu erkennen, daß etwa der konservative „Demokratische Aufbruch“ (DA) als einzige der am Runden Tisch vertretenen Organisationen an der „Arbeitsgemeinschaft für Gleichstellungsfragen“ nicht teilgenommen hatte.

Daß die Frauen auch in der DDR-Gesellschaft trotz formaler Gleichstellung bisher benachteiligt sind und daß die wirtschaftlichen Veränderungen sie in besonders hohem Maße bedrohen, war unumstritten. Die Arbeitsgruppe hatte gefordert, ein neu zu schaffendes Ministerium für Gleichstellungsfragen solle mit darauf achten, daß geschlechtsspezifische Diskriminierung abgebaut und bei der Wahrnehmung formaler Rechte Chancengleichheit - z.B. durch Quotierung - geschaffen wird. Insbesondere die CDU - und ebenso ihr Bündnispartner DA - wehrte sich vehement gegen die Einrichtung eines solchen Ministeriums. Ihr Vertreter sah darin eine Unterbewertung der Familie, der doch im künftigen Staat eine zentrale Rolle zukommen solle. Er forderte stattdessen die Bildung eines Ministeriums für Familie und Soziales. Auch den Vermittlungsvorschlag, zwei Ministerien - eines für Gleichstellung, ein zweites für Familie und Soziales - zu bilden, lehnte er ab. Dennoch wurde es vom Runden Tisch schließlich mehrheitlich so beschlossen. Freilich tragen alle diese Beschlüsse nur den Charakter von Empfehlungen an die künftige Volkskammer und die aus ihr gebildete Regierung. Ob sie dieses Vermächtnis der radikaldemokratischen Phase der DDR-Revolution auch achten wird, kann man heute noch nicht sagen. Das wird von den künftigen Mehrheitsverhältnissen abhängen.

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