: Kiechle-Anschlag läßt Verfassungsschutz rotieren
■ Rätselraten in den Sicherheitsbehörden über das potentielle Opfer / Verhinderung des EG-Binnenmarkts als zentrales Ziel einer neuen Offensive oder Ergebnis des gescheiterten RAF-Hungerstreiks des vergangenen Jahres? / Ermittlungen bislang ergebnislos
Berlin (taz) - Der geplante RAF-Anschlag auf Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle hat bei den Sicherheitsbehörden Besorgnis und Verwirrung ausgelöst. Besorgnis, weil mit Ignaz Kiechle erstmals ein Bonner Minister ins Visier der Roten Armee Fraktion geraten ist, und Verwirrung, weil die Logik der RAF-Anschläge nicht mehr berechenbar erscheint.
Der Sprecher des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, Dr. Lange, nannte es auffällig, daß die RAF in ihrem Bekennerschreiben die Entwicklungen in Osteuropa nicht etwa zum Anlaß einer Reflektion des bewaffneten Kampfs genommen habe, sondern im Gegenteil unter dem Schlagwort „Der Imperialismus vereinnahmt Osteuropa“ wieder verstärkt auf militante Aktionen setze. Im Gegensatz zu dem tödlichen Anschlag auf den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, am 30. November werde jetzt auch wieder von einer „Offensive“ gesprochen, an der „alle militanten Kräfte mit koordinierten Aktionen teilnehmen“. Beleg für diese Offensive seien die Anschläge auf die Hauptverwaltung der Rheinisch-Westfälischen-Elektrizitätswerke (RWE) in Essen am 4. Februar, der am 27.2. entdeckte Brandanschlag auf die Bonner Siemensschule sowie die gescheiterten Sprengstoffattentate auf ein Forschungszentrum der Bayer AG in Monheim am 10.Dezember und auf ein Verwaltungsgebäude der Deutschen Bank in Eschborn bei Frankfurt am 25. Februar. Eine Kontinuität lasse sich in den Bekennerschreiben erkennen. Von der „Offensive“ bedroht, heißt es beim Kölner Verfassungsschutz, sei alles, „was mit dem EG-Binnenmarkt 1992 zu tun hat“.
Während der Sprecher des Kölner Bundesamtes als Ziel der „Offensive“ den Versuch der Verhinderung des europäischen Einigungsprozesses ausmacht, sehen die Mitarbeiter in anderen Landesämtern in der laufenden Anschlagserie in erster Linie eine Reaktion auf den letzten Hungerstreik der RAF-Gefangenen. Nach dem Scheitern des Hungerstreiks im letzten Frühjahr solle nun die „Zusammenlegung herbeigebombt“ werden.
Unterschiedliche Auffassungen herrschen auch bezüglich der Frage, wie Minister Kiechle als potentielles Attentatsopfer zu bewerten ist. Das Kölner Amt sieht „keine neue Qualität“. Andere Experten befürchten dagegen, daß nun „keine Berechenbarkeit von Anschlägen mehr gegeben ist“. Noch vor einer Woche hätte man den Landwirtschaftsminister Kiechle als Ziel eines Attentates ausschließen können, da sich die Rote Armee Fraktion bislang bei ihren Anschlägen immer auf führende Persönlichkeiten aus dem „Industriellen -Militärischen-Komplex“ konzentriert habe. Gestolpert sind die Sicherheitsexperten in dem Bekennerschreiben auch über den Begriff „forcierter Aktionismus gegen das System“, den die Verfasser in ihrem Bekennerschreiben als „unabdingbare Notwendigkeit des Widerstandes“ gefordert haben. Bisher stand „Aktionismus“ in RAF-Erklärungen als Synonym für nicht durchdachte Aktionen.
Die Ermittlungen des Bundeskriminalamtes nach den näheren Umständen des geplanten Attentats verliefen gestern ergebnislos. Eine Hundertschaft der bayerischen Grenzpolizei hat gestern die Straße zwischen Kempten und Wiggensbach im Oberallgäu erfolglos nach Hinweisen auf die abgebrochene Aktion abgesucht. Kiechle hatte sich am Samstag in seinem Bauernhof in Wiggensbach zu einer verspäteten Geburtstagsfeier aufgehalten.
Wolfgang Gast
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