: Das Gefühl von Unterlegenheit - und Abenteuer
■ Metropole heißt multikulturelle Gesellschaft: Das Problem der Jugendbanden aus Sicht eines hohen Londoner Polizei-Offiziers: „Die Polizei ist nicht die Wiege, in der die Gesellschaft ihre unerwünschten Kinder ablegen kann“
taz: Was für Jugend-Gruppen sind Ihrer Erfahrung nach in die Auseinandersetzungen involviert?
Richard Wells: Gruppenkämpfe an sich hat es schon immer gegeben, beispielsweise sind im 15. Jahrhundert Prostituierte organisiert angegriffen worden. Heute kämpfen Weiße gegen Schwarze, Engländer gegen Iren, Schwarze gegen Asiaten, Asiaten gegen Weiße, Sikhs gegen Hindus, Hindus gegen Moslems, Katholiken gegen Protestanten, Mods gegen Rocker und natürlich Fußballclubs gegen Fußballclubs, eine besondere Art von Tribulism (Stammesverhalten). Alles in allem geht es um großstädtische, junge, männliche Arbeiter das ist die Grobcharakterisierung. Es gibt natürlich Ausnahmen, beispielsweise haben wir in letzter Zeit viel mit Gewalt zu tun, die auf Alkoholeinfluß zurückzuführen ist, vor allem auf dem Land. Es gibt auch Gruppen weiblicher Jugendlicher, die organisierten Ladenraub durchführen - aber das ist eine Seltenheit, denn noch immer sind Mädchen diejenigen, die sich wohlerzogener verhalten. Eine weitere Ausnahmen sind die „Hurra-Henrys“, Gruppen aus der gehobenen Mittelklasse, sehr junge, gut erzogene Männer mit Geld im Rücken, die in Restaurants oder an anderen öffentlichen Plätzen versuchen, bis an die Grenze des Erlaubten zu gehen. Es gibt eine These, die besagt, daß es eine Form von „verzögerter Ausschreitung“ gibt. Das heißt, daß ein langer Prozeß von Aggression und Ausgrenzung stattgefunden hat, bis es zu den Ausschreitungen kommt. Die sind sozusagen die Spätfolgen.
Was sehen Sie noch für Gründe für jugendliche Bandenbildungen?
Ich bin der Meinung, daß es ein Grundgefühl von Angst gegenüber Fremden und zugleich ein Art von „Rudelaggression“ gibt, die vergleichbar ist mit dem aggressiven Selbsterhaltungstrieb von Tieren. Ich denke da an die Forschungen von Konrad Lorenz. Das ist bei Menschen ganz genauso, wurde bisher aber weder verstanden noch erforscht. Dieses Grundgefühl ist bei allen Menschen vorhanden und trägt zur Gruppenbildung von Jugendlichen bei. Weitere wesentliche Gründe für die Bandenbildung ist die Langweile der Jugendlichen und daraus resultierende Abenteuerlust, sowie Frustration, die mit dem Gefühl von Unterlegenheit verknüpft ist. Letzeres betrifft vor allem die Jugendlichen, die aus dem ohnehin ungenügenden Netz der sozialen Sicherheit herausgefallen sind. Das Gefühl von Unterlegenheit führt dazu, daß die Jugendlichen sich eigene Normen und Gesetze auferlegen, und sich so als eigene soziale Gruppe konstituieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die „Motorcycles-Gang“ in Amerika: Die Gang nennt sich „Ein -Prozent-Gruppe“ und hat damit die soziologische Klassifikation voll übernommen.
Was charakterisiert die Jugend-Gangs?
Für die Psychologie der Gruppen spielt die Eroberung und Verteidigung eines eigenen Gebietes und die Stärke der Gang eine Rolle. Dabei hat jede Gruppe ihre eigenen Mechanismen und Hilfsmittel, mit denen das Gefühl von Stärke erzeugt wird. Das sind bei den einen die Waffen, bei den anderen die Drogen, bei den dritten der Alkohol. Alle gemeinsam treibt das Bedürfnis nach Abenteuer und Gefahr. Alkohol, Drogen und eine Art Gewaltrausch spielen eine verstärkende oder sogar initiierende Rolle. Die Gewalt unter den Banden entsteht oft spontan und ist nicht vorhersagbar. Bestimmte Konfrontationen zwischen den Gruppen sind aber auch lange geplant, es wurden regelrechte Waffendepots angelegt Stöcke, Eisenstangen und seit kurzer Zeit auch Flaschen, aus denen man Molotowcocktails macht. Bei den Afro-Caribbeans werden auch Feuerwaffen und Messer benutzt. Das Beuruhigende an Bandenkriegen ist das Gesetz der Ausweiterung: Wenn Gruppe A Gruppe B attackiert, erfolgt mit Sicherheit ein Gegenangriff, der wiederum beantwortet werden muß und so fort. Die Schwierigkeit für uns liegt im Ehrenkodex der Gruppen, die der Polizei auf keinen Fall bei ihren Ermittlungen helfen würden und sogar in Einzelfällen medizinischen Beistand ablehnen.
Trägt die Polizei zu der Gewaltspirale bei und wenn ja, in welchem Ausmaß?
Möglicherweise tun wir das. Die Polizei ist ja in dieser Gesellschaft ein soziales Kontrollorgan. Wenn diese Kontrolle als repressiv empfunden wird, das heißt nicht mehr als Dienstleistung, dann trägt dieses Empfinden sicher zur Eskalation der Gewalt bei. Bei manchen Gelegenheiten läuft die Polizei sogar richtiggehend Gefahr, ein Katalysator zu sein: Wenn die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Gangs den Charakter eines Rituals annehmen, muß die Polizei darauf achten, nicht zu dem Publikum zu werden, das die Akteure brauchen, das sie noch anheizt. Unsere Aufgabe ist in gewisser Weise widersprüchlich: Wir sollen die Mehrheit der Bevölkerung schützen, die sich vor Gewalt fürchtet und friedliche Verhältnisse möchte. Andererseits müssen wir den Gruppen gegenüber so stark auftreten, daß sie begreifen, daß wir ihre Gewalt nicht akzeptieren, beziehungsweise daß wir ihnen an Stärke gewachsen sind. Insofern ist es ein heikles Geschäft, wie weit wir sichtbar sein sollen - das, was man manchmal das „Profil der Polizei“ nennt.
Was folgern Sie daraus für Ihre Arbeit?
Für unsere Arbeit hinter den Kulissen ist es enorm wichtig, integere Personen zu kennen, die im Konfliktfall intervenieren können. Diese Personen müssen nicht notwendigerweise ein öffentliches Amt haben oder sonstwie ausgezeichnet sein, sondern vor allem vertrauenswürdig sein für die Gruppen. Die Polizei steht oft im Kreuzfeuer der Kritik und hat - nach der öffentlichen Meinung - zu wenig und spät reagiert oder zu hart durchgegriffen. Dazu kann ich nur sagen: Die Polizei ist nicht die Wiege, in der die Gesellschaft ihre unerwünschten Kinder ablegen kann.
Tritt die Polizei für eine harte Bestrafung der Jugendlichen ein?
Wir fordern überhaupt keine Bestrafung. Im Gegenteil: In Anbetracht der Umstände, in denen die Verbrechen entstanden sind, lehnen wir bei Jugendlichen unter 17 Jahren eine Gerichtsverhandlung und Gefängnisstrafen meistens ab. Auch bei Erwachsenen machen wir in Einzelfällen Gebrauch von unserem Recht, statt einer Gerichtsverhandlung nur eine Verwarnung auszusprechen, wenn die Tat nicht zu schwerwiegend ist.
Was für ein Image hat die Polizei bei den Jugendlichen? Wird ihr von den ethnischen Gruppen der Vorwurf gemacht, rassistisch zu sein?
Dieser Vorwurf ist gemacht worden. Und zweifellos in einigen Fällen zu Recht. Es ist hart, das zugeben zu müssen. Angriffe auf ethnische Minderheiten gibt es aus allen Teilen der Gesellschaft. Diese Angriffe haben immer etwas mit der Unsicherheit der Angreifer zu tun - wer sich selbst in einer Gesellschaft stark und sicher fühlt, hat es nicht nötig, nach einem Gegner zu suchen, der sich noch schwächer fühlt. Deshalb ist es für die Polizei um so wichtiger, sich über ihre Rolle in der Gesellschaft klar zu sein und sich darin akzeptiert zu fühlen.
Sind Angehörigen der ethnischen Gruppen in der Polizei tätig?
Es gibt einige, aber längst nicht genug. In der Metropolitan Police gibt es 1,5 Prozent ethnische Minderheiten. Wenn Sie bedenken, daß es einige Gruppen in bestimmten Bezirken mit 15 Prozent gibt, ist klar, daß das viel zu wenig ist. Ein Handicap für die Aufstockung der Polizei ist die Größe: Es gibt ein Mindestmaß für Polizisten, five foot eight, etwa ein Meter sechzig, und Asiaten sind oft kleiner.
Was wird in London dafür getan, die Jugendlichen von der Gewalt und Gang-Aktivitäten abzubringen?
Eine tolerante Gesellschaft beweist sich darin, ob sie in der Lage ist, ihren Mitgliedern Möglichkeiten zu geben, andere Umgangsformen als die Selbstjustiz zu entwickeln oder ob sie Selbstjustiz als ein Mittel zur Aussonderung unliebsamer gesellschaftlicher Gruppen versteht. Die Polizei hat immer erst mit den Symptomen zu tun, die Ursachen liegen bei Familien, Kirchen, Sozialarbeitern und anderen Institutionen. Diese müssen den Jugendlichen ein umfassendes Angebot machen, um Interesse zu wecken. Hier werden den Jugendlichen beispielsweise im Sommer-Camps angeboten, wo sie Bergsteigen können. Es ist vielleicht ein banaler Vergleich, aber es ist immer noch besser einen Berg zu erklimmen, als eine Hauswand hochzuklettern.
Was für friedliche Lösungsmöglichkeiten zur Bewältigung des Problems „Jugendbanden“ gibt es?
Ich glaube nicht, daß es eine friedliche Lösung gibt. Es gibt menschliche Grundeigenschaften wie Besitzgier, Neid und Aggression, die immer und unter allen Bedingungen für Probleme sorgen. Man kann diese Probleme nicht ein für allemal lösen, sondern ihre Auswirkungen mildern und mit politischen Mitteln für bessere Ausgangsbedingungen sorgen: Abschaffung der Wohnungsnot und der Arbeitslosigkeit, Programme, um die Leute ganz einfach von der Straße zu holen. Selbst dann wird es Leute geben, die als „nicht sozialisierbar“ gelten. Insgesamt muß die Gesellschaft ihre Mitglieder ermutigen und befähigen, selbst Initiative und Verantwortung zu ergreifen - und zwar alle Mitglieder. Wenn Leute das Gefühl haben, nicht beteiligt zu werden, wollen sie das kaputtmachen, woran sie nicht beteiligt sind.
Was für eine Rolle spielen die Medien dabei?
Sie müssen aufpassen, nicht zu glorifizieren. Die Medien haben das Recht und die Pflicht, über Bandenkriminalität zu berichten, die Öffentlichkeit hat ein Recht, darüber informiert zu werden, aber die Medien haben auch die Verantwortung, aus den Informationen keine Sensationen zu machen und damit Eskalationen zu fördern. Ich meine, daß Journalisten den Reiz der Gewalt in unserer Gesellschaft auf keinen Fall erhöhen dürfen.
Interview: Plutonia Plarre
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