: Der lange Marsch über den Alabama River
Der 7.März 1965 ging in die Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung als „Bloody Sunday“ ein, nachdem im Südstaatenstädtchen Selma ein Protestmarsch niedergeknüppelt worden war / Diese Woche wird mit einem Marsch daran erinnert, daß Geschichte nicht einfach abhakbar ist ■ Aus Selma Rolf Paasch
Selma, eine Kleinstadt im US-Bundesstaat Alabama, am ersten Sonntag im März. Dort, wo sich die Broad Street anhebt, um den gold-gelb dahinfließenden Alabama River zu überqueren, haben sich rund 2.000 schwarze DemonstrantInnen versammelt, um Geschichte zu re-inszenieren. Ganz vorne schreiten die Veteranen der Bürgerrechtsbewegung, die hier vor einem Vierteljahrhundert schon einmal zum Marsch auf die Bundeshauptstadt Montgomery loszogen. Jesse Jackson, der damals noch jugendliche Zögling Martin Luther Kings und voraussichtliche Präsidentschaftsbewerber für 1992; John Lewis, damals Student und heute Kongreßabgeordneter für den Südstaat Georgia; und Hosea Williams, ein alter Kämpfer der „Southern Christian Leadership Conference“, dem christlichen Arm der US-Bürgerrechtsbewegung. „Seitdem sind wir weit gekommen“, sagt Williams, als der Zug auf der leicht geschwungenen Edmund Pettus Brücke in der schon warmen Frühlingssonne anhält, um Fotografen und Kameraleuten Gelegenheit zum Snapshot zu geben.
Bis zur Brückenmitte waren die schwarzen BürgerrechtlerInnen vor 25 Jahren schon einmal gekommen dann hetzte der berüchtigte Sheriff von Dallas County, Jim Clark, seine Truppen mit Hunden, Pferden, Tränengas und elektrisch geladenen Rinderknüppeln auf die gewaltlosen MarschiererInnen. Hunderte landeten an diesem 7. März 1965 im Krankenhaus oder hinter Gittern. Der Fernsehsender ABC unterbrach am Abend des „Bloody Sunday“ die Ausstrahlung der „Nürnberger Prozesse“, um die Bilder von der brutalen Auflösung des Demonstrationszuges in die amerikanischen Wohnzimmer zu senden. Selma wurde zum Symbol für das Überleben der Apartheid in Amerika auch nach den Bürgerrechtsgesetzen von 1963 - und zum Wendepunkt im Kampf um die formelle Gleichberechtigung der „Negroes“. Ende März
-der Zug hatte es nach einem zweiten erfolglosen Anlauf über die Brücke in Selma und zwei Toten endlich nach Montgomery geschafft - legte Präsident Lyndon B. Johnson ein neues Wahlgesetz vor, das den Schwarzen das seit über 100 Jahren verfassungsrechtlich zustehende Wahlrecht auch wirklich garantieren sollte. In einer denkwürdigen Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses erklärte Johnson das „We shall overcome“ der Bürgerrechtsbewegung zum Anliegen aller AmerikanerInnen - und überredete einen ebenso konservativen wie widerwilligen Kongreß zur Annahme des Gesetzes.
Die Vergangenheit verfolgt die Stadt bis heute
„Das auf der Edmund Pettus Brücke vergossene Blut hat uns das Wahlrecht gebracht“, erklärt Hosea Williams der versammelten Medienschar. „Nach acht Jahren Reagan und jetzt Bush“, so fährt er selbstkritisch fort, „müssen wir uns heute allerdings fragen, welchen Unterschied das macht. Die wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen Schwarz und Weiß werden wieder größer. Die Bürgerrechtsbewegung hat noch einen weiten Weg vor sich.“ Während das schwarze Selma das Silberjubiläum des Marsches in den Kirchen und Veranstaltungssälen der kleinen Stadt feiert, hat das weiße Selma weiterhin Probleme mit seiner Geschichte. Es ist, als wollte die Stadt lieber in der Vergangenheit leben. Doch die verfolgt sie bis heute. Im „Brown Bag Restaurant“ auf der Broad Street hängen vergilbte Zeitungsmeldungen aus der guten alten Zeit, als der Luftwaffenstützpunkt Craig Airforce Base noch größter Arbeitgeber war und als die „No Coloured„-Schilder noch zum Straßenbild gehörten. „Wenn das Heute ein Fisch wäre, ich würde es einfach wegschmeißen“, so lautet die fast philosophische Aufschrift an „Pickerings Lebensmittelladen“, der von einem „bissigen Bullterrier mit Aids“ bewacht wird. Die Inhaberin hat nicht nur einen etwas skurrilen Humor, sondern auch klare Ansichten. Nicht die Ewiggestrigen, die Ende März in Selma wieder die Entscheidungsschlacht im Bügerkrieg nachspielen werden - mit einem positiveren Ausgang für die Sklavenhalterstaaten, versteht sich - sind veranwortlich für das schlechte Image Selmas, sondern die von außen einfallenden „Agitatoren“ und „Medienvertreter“. Wie viele BürgerInnen von Selma glaubt sie, daß die Auswahl ihrer kleinen Stadt durch die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings und seiner Nachfolger einfach unfair war und ist. „Anderswo war die Rassentrennung viel schlimmer.“
In der Tat standen in Selma vor 25 Jahren mit 600 schwarzen EinwohnerInnen mehr „Negroes“ auf den Wählerlisten als in den benachbarten Distrikten Alabamas oder Mississippis. King und seine Berater hatten den Ort nur deswegen zum Ausgangspunkt ihrer Wahlrechtskampagne gemacht, weil es hier mit Sheriff Jim Clark einen reaktionären „Redneck“ gab, dessen Verhalten für die nötigen Schlagzeilen sorgen würde eine Rechnung, die am 7. März 1965 blutig aufgehen sollte.
Solche „Rednecks“ und Anhänger der Konföderation, die die Niederlage der Südstaaten im Bürgerkrieg gegen die Truppen des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln immer noch nicht verwunden haben, sind heute in Selma eine kleine, aber signifikante Minderheit. Als die DemonstrantInnen über die Brücke marschieren, hat sich auf dem Balkon eines nahegelegenen Hauses eine Schar von Konföderierten versammelt, um trotzig ihre Fahne zu schwenken. Die gegen das „We shall overcome“ aufgelegte Country Music gerät ihnen allerdings zur unfreiwilligen Persiflage ihrer selbst: „Ich weiß nicht was ich hier soll, und ich hab‘ vergessen, was ich sagen wollte“, tönt es da aus ihrer Lautsprecherbox über den Alabama River.
Der gleiche - weiße
Bürgermeister wie damals
Bürgermeister Smitherman, seit 26 Jahren unangefochten im Amt, hat sich hingegen als ehemaliger Segregationist mit der formalen Emanzipation der schwarzen Bevölkerungshälfte abgefunden und begrüßt heute die Feierlichkeiten in Selma. Zu einem Interview mit der „ausländischen Presse“ über Relikte des Rassismus wollte sich der Chef im Rathaus allerdings nicht hergeben. Ähnlich ergeht es dem neugierigen Besucher bei dem Gesprächsversuch mit dem mittlerweile pensionierten Herausgeber des 'Selma-Times-Journal‘, Rosswelt Falconberry. Mr. Falconberry verweist stolz auf seinen gemäßigten Leitartikel, in dem er schon damals für die Akzeptanz des Unvermeidlichen warb. Auf die Gründe für bestehende Ungleichheiten zwischen Schwarz und Weiß angesprochen, explodiert er jedoch plötzlich und will das Gespräch abbrechen. „Lest ihr Europär denn, ehe ihr hier herüberkommt, überhaupt keine Geschichtsbücher“, fragt er sarkastisch. „Dies ist“, so rutscht es ihm dann in der Erregung heraus, „ich meine dies war hier rund um Selma alles Plantation Country.“
Auch die freundlichen älteren Ladies im „Media Hospitality Center“, einer Art Progapandazentrum weißer Lokalpatrioten, bemühen sich ein bißchen zu krampfhaft, dem Besucher zu versichern, daß Rassentrennung längst der Vergangenheit angehört. Sie alle haben mittlerweile gelernt, das Richtige zu sagen. Und doch wird bei genauem Hinhören klar, daß Martin Luther King für sie nicht als Nobelpreisträger, sondern als „Agitator von außen“ in die Geschichte eingehen wird.
Heute herrscht
subtilere Diskriminierung
Solche „Agitatoren“, so glaubt die weiße Bevölkerung der 30.000-Einwohner-Stadt, sind auch heute wieder dafür verantwortlich, daß der Name Selma in den abendlichen Nachrichten erscheint. Nicht mehr um das Wahlrecht, sondern um die Chancengleichheit im Erziehungswesen geht es in dem Konflikt, der dieser Tage für Schlagzeilen sorgt. Nachdem der mehrheitlich mit weißen Mitgliedern besetzte Vorstand der Schulbehörde im Januar den Vertrag des ersten schwarzen Superintendenten für die Schulen Selmas, Norward Roussell, nicht verlängert hatte, organisierten schwarze Eltern und Schüler einen Schulboykott. Fünf Tage lang hielten sie die Selma High School besetzt, um für Roussells Wiedereinstellung zu demonstrieren. Wie vor 25 Jahren rief Bürgermeister Smitherman die Nationalgarde zu Hilfe.
Seitdem haben 270 weiße Eltern ihre Kinder von der Schule genommen. Roussell, so argumentieren die DemonstrantInnen, sei allein deswegen gekündigt worden, weil er versucht habe, das traditionelle Plazierungssystem abzuschaffen, das schwarze Kids systematisch in weniger anspruchsvolle Kurse dirigierte. „Unsere Schulen sind heute zwar in dem Sinne integriert, daß alle in das gleiche Schulgebäude gehen. Schaut man sich jedoch die weniger fortgeschrittenen Kurse an, dann findet man dort immer mehr Schwarze als Weiße“, erklärt Dr. Roussell die Gründe für seine versuchte Reform des Klassifizierungsystems von Schülern.
Der Konflikt um die Entlassung des schwarzen Superintendenten weist jedoch auf über das Schulsystem hinausreichende Ungleichheiten hin. Obwohl in Selma 70 Prozent aller Schüler Schwarze sind, gibt es im Vorstand der Schulbehörde immer noch eine weiße Mehrheit. Selmas Schwarze dürfen zwar heute in den gleichen Geschäften einkaufen; sie stellen 30 Prozent der Polizeikräfte, sitzen im Stadtrat und stellen den Postmeister; doch die Banken und das Bürgermeisteramt bleiben fest in weißer Hand. 25 Jahre nach dem Ende der offiziellen Rassentrennung gibt es in Selma zwei YMCA-Clubs, einen für die weißen und einen für schwarzen Pfadfinder. In der Stadt, in der es mehr Gotteshäuser als Cola-Automaten gibt, sind mit einer Ausnahme auch sämtliche Kirchen getrennt. „Seitdem wir in der katholischen Kirche die beiden Gemeinden zusammengelegt haben“, erzählt der Stadthistoriker Alston Fitts, „haben wir einen deutlichen Mitgliederrückgang zu verzeichnen. Es gibt halt viele Veränderungen, aber keinen wirklichen Wandel“, fügt er traurig hinzu.
„Seid nicht so ruhig
und schweigsam“
„Vor 25 Jahren hatten wir Rassentrennung per Gesetz“, predigte der Politiker Jesse Jackson an diesem Sonntag in der überfüllten Baptistenkirche an der Ecke zur Martin -Luther-Street. „Heute haben wir wirtschaftliche und kulturelle Rassentrennung.“ All dies hat Folgen für die Bürgerrechtsbewegung, von deren Wiedergeburt nach einer „Dekade des Niedergangs“ hier in Selma häufig die Rede ist. Nach der formellen Gleichberechtigung wird das Civil Rights Movement in den 90er Jahren die materielle Gleichberechtigung der Schwarzen erkämpfen müssen. „Seid nicht so ruhig und schweigsam“, ruft der Bürgerrechtsveteran und Kongreßabgeordnete John Lewis den jungen Teilnehmern des Jubiläumsmarsches von Selma nach Montgomery zu.
Am Abend nach deren Abmarsch und dem Abzug der Medienkarawane ist in Selma wieder Ruhe eingekehrt. Vor dem Rathaus steht einsam ein Polizist und in „Big O's Cafe“ in der Washington Street genehmigt sich ein weißes Publikum den letzten Drink des Wochenendes. Die Bardame begrüßt den späten Besucher mit einem freundlichen Gruß. „The South will Rise again“ steht auf der Flagge der Konföderierten hinter dem Tresen. Erst als ihr Blick auf das krause Haar und die Haut seiner Begleiterin fällt, erinnert sich die Dame hinter der Theke daran, daß ihr Etablissement eigentlich eine geschlossene Gesellschaft sei. Stumm schaut das Publikum dem Abgang der ungebetenen Gäste zu. Wie hatte es der Bürgerrechtsveteran Hosea Williams den Marschierern mit auf den Weg nach Montgomery gegeben: „We've come a long way, but we've got a long way to go.“
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