: Schreiben als erweiterte Biographie
■ Der estnische Schriftsteller Jaan Kross wurde siebzig / Ein Seiltänzer zwischen Politik, Nationalismus und Literatur
Nein, im bundesdeutschen Literaturbetrieb hat Jaan Kross, der wortgewaltige Erzähler aus dem Baltikum, noch nicht den ihm gebührenden Platz gefunden. Sein Werk, neun historische Romane und dreizehn Erzählungen, und sein politisches Wirken sperren sich gegen politische Vereinnahmungen ebenso wie gegen schnelle Kategorisierungen. Jaan Kross erzählt in seinen Romanen und Novellen die Geschichte Estlands und des Baltikums. Eng damit verwoben: die eigene Verfolgung unter den Nazis und unter Stalin, die historischen Konflikte mit Rußland und die jüngste Geschichte der Sowjetunion. Sicherlich ist er ein Nationalist, gleichwohl meistert er das gespannte Verhältnis zu Rußland bzw. zur Sowjetunion mit Leichtigkeit, Selbstironie und erzählerischer Präzision. Über Verfolgung, Verbannung und Folter schreibt er in vielen facettenreichen Bildern und mit großer sprachlicher Genauigkeit - daraus entsteht die literarische Kraft und Bedeutung des Werkes von Jaan Kross. Ende vergangenen Jahres besuchte Jaan Kross die Bundesrepublik zu einer Autorentagung der Evangelischen Akademie Loccum.
Individuen, historische Personen stehen bei Jaan Kross im Mittelpunkt - eine bewußte Abgrenzung gegen die offizielle Geschichtsschreibung der „Geschichte der Massenbewegungen“. Zuletzt auf deutsch erschienen ist der Roman Der Verrückte des Zaren. Die Geschichte von Timotheus von Bock, der als ferner Verwandter und Vertrauter des Zaren Alexander I. gegen den Herrscher rebelliert. Es ist die Geschichte eines deutschen Junkers, der als Angehöriger des Adels in Livland (Lettland) die politischen und gesellschaftlichen Grenzen seiner Zeit überschreitet. Er heiratet die Tochter eines Leibeigenen und wirft dem Zaren in einem Manifest Despotismus, Korruption und Unfähigkeit vor. Gleichzeitig entwirft er die Strukturen einer demokratischen Gesellschaft - die Souveränität des Zaren wird ersetzt durch die Souveränität des Volkes. Eine Kitsch-Geschichte? Nein, Jaan Kross stützt sich auf historische Fakten und der Ausgang ist tragisch. Timotheus von Bock wird verhaftet, erleidet neun Jahre Einzelhaft, wird für verrückt erklärt und im Hausarrest von einem Spitzel erschossen, so die Vermutung von Jaan Kross. Offiziell ist es Selbstmord.
Vergleiche drängen sich auf, autobiographische wie politische: die Psychiatrisierung von politischen Gegnern der Sowjetunion - Jaan Kross und Timotheus von Bock erlitten beide neun Jahre Haft, der eine unter dem Zaren, der andere zwischen 1945 und 1954. Ein Spannungsfeld entsteht, mit dem Jaan Kross virtuos spielt: Ihn interessiert, so sagt er, am „Verrückten des Zaren“ in erster Linie die „historische Figur“, merkt aber mit der ihm eigenen Ironie an: „Einem Leser, der Allegorien zu Stalin finden will, dem würde ich es gestatten.“ In seinen jüngsten Novellen nähert sich Jaan Kross seiner eigenen Biographie und der Gegenwart: „Tuhatoos - Der Aschenbecher erzählt die Verbannung nach Sibirien. Eine weitere Novelle beschreibt die Rückkehr aus der Haft nach neun Jahren. Die historischen Biographien verfließen mit der des Autors, die historischen Prozesse verfließen mit der jüngsten Geschichte. „Nebenbei“ entwirft Jaan Kross das Bild einer „multikulturellen Gesellschaft“ für das Baltikum, die sich nach Nord- und Mitteleuropa, vor allem aber an Deutschland und Frankreich orientiert.
Mit dieser Geschichtsschreibung trifft Jaan Kross das Nationalbewußtsein von Esten, Letten und Litauern - dafür wird er geliebt und verehrt.
Gleichwohl läßt sich Jaan Kross keine scharfen antirussischen Töne entlocken - sehr zum Mißfallen vieler baltischer Nationalisten. Auch wurden seine Bücher lange vor Glasnost und Perestroika ins Russische übersetzt. Die deutschen Übersetzungen sind bislang in der DDR verlegt worden - lange vor dem November '89. Jaan Kross hat das vor allem von Exil-Balten den Vorwurf eingetragen, ein „Schriftsteller des Kompromisses“ zu sein. Er selbst sieht sich eher als einen Seiltänzer. Natürlich waren „die historischen Texte weniger gefährlich als die aktuellen“, und im Estnischen hatte „man es mit der Zensur weniger schwer als im Russischen“. Aber, und Jaan Kross antwortet mit einer Stelle aus dem Verrückten des Zaren: „Ins Ausland gehen nur die, die sich rächen wollen... Wer etwas Wesentlicheres erreichen will, bleibt zu Hause.“
Jaan Kross wurde vor 70 Jahren, am 19. Februar 1920, in Tallinn geboren.
Bernd-Olaf Hagedorn
Jaan Kross in deutsch:
Michael Sittow - Vier Monologe Anno Domini 1506. Aufbau 1974, Klett-Cotta 1986;
Das Leben des Balthasar Russow. Rütten & Loening 1986;
Der Verrückte des Zaren. Rütten & Loening 1988;
Tuhatoos - Der Aschenbecher. Schriftenreihe der Evangelischen Akademie Loccum, 3056 Rehburg-Loccum.
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