piwik no script img

Der Einfall zu diesem Buch...

■ Das Nachwort der Autorin zu ihrem 1952 erstmals erschienenen Roman „Carol . Roman einer ungewöhnlichen Liebe“

Patricia Highsmith

Der Einfall zu diesem Buch kam mir Ende 1948. Damals lebte ich in New York. Ich hatte gerade den Roman Zwei Fremde im Zug beendet, der aber erst 1949 erscheinen sollte. Weihnachten stand vor der Tür, ich war irgendwie deprimiert und hatte auch kein Geld. Um etwas zu verdienen, nahm ich für die Zeit des Weihnachtsgeschäfts für etwa vier Wochen einen Job als Verkäuferin in einem großen Warenhaus in Manhattan an. Ich stand es, glaube ich, zweieinhalb Wochen durch.

Im Warenhaus wurde ich der Spielzeugabteilung zugeteilt, genauer, ich kam zu den Puppen. Es gab vielerlei Arten von Puppen, teure und nicht so teure, mit echtem und mit künstlichem Haar, und die Größe und die Kleider waren von allergrößter Wichtigkeit. Kinder, deren Nasen knapp bis zum Rand der gläsernen Schaukästen reichten, schoben sich mit Mutter oder Vater oder mit beiden nach vorn, geblendet von dieser Fülle nagelneuer Puppen, die weinen, die Augen öffnen und schließen und stehen konnten und natürlich dauernd umgezogen werden wollten. Es herrschte ein fürchterlicher Andrang, und ich und die übrigen vier oder fünf jungen Frauen, die mit mir hinter dem langen Ladentisch standen, kamen von halb neun bis zur Mittagspause nicht zum Sitzen. Und auch dann nicht unbedingt! Am Nachmittag war es nicht anders.

Eines Morgens tauchte eine blondhaarige Frau im Pelzmantel in diesem lärmigen Verkaufsrummel auf. Sie ließ sich, offensichtlich unentschlossen, zu dem Ladentisch mit den Puppen treiben - sollte sie eine Puppe kaufen oder lieber etwas anderes? - Und ich meine, mich zu erinnern, daß sie zerstreut mit ihren Handschuhen leicht in die eine Hand schlug. Vielleicht fiel sie mir auf, weil sie allein oder weil ein Nerzmantel eine Seltenheit war oder auch wegen ihres leuchtenden hellblonden Haars. Immer noch in Gedanken verloren, wählte sie unter den zwei oder drei Puppen, die ich ihr gezeigt hatte, eine aus, und ich schrieb ihren Namen und ihre Adresse auf die Quittung, denn die Puppe sollte in einen Nachbarstaat geschickt werden. Es war reine Routine, die Frau zahlte und ging. Doch ich fühlte mich merkwürdig benommen, wie knapp vor einer Ohnmacht, zugleich aber auch erhoben, so als hätte ich eine Vision gehabt.

Ich kehrte wie immer nach der Arbeit in meine kleine Wohnung zurück, wo ich allein lebte. Am gleichen Abend notierte ich mir eine Idee, eine Handlung, eine Story über die elegante blonde Frau im Pelzmantel. Ich schrieb etwa acht Seiten mit der Hand in mein Notizbuch von damals. Es war die vollständige Geschichte von Carol . Roman einer ungewöhnlichen Liebe. Sie floß mir aus der Feder, irgendwoher - Anfang, Mitte und Ende. Ich brauchte zwei Stunden dafür, vielleicht noch weniger.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich noch sonderbarer, und ich merkte, daß ich Fieber hatte. Es muß ein Sonntag gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich morgens mit der Untergrundbahn fuhr (damals arbeitete man auch Sonnabend vormittags und während des Weihnachtsgeschäfts noch den Nachmittag dazu). Ich erinnere mich, daß ich beinahe ohnmächtig wurde, als ich da in der U-Bahn an meinem Haltegriff hing. Die Freundin, mit der ich verabredet war, verstand etwas von Medizin, und ich sagte ihr, daß ich mich ziemlich elend fühlte und morgens beim Duschen eine kleine Blase auf meinem Bauch entdeckt hätte. Meine Freundin warf bloß einen Blick auf die Blase und sagte: „Windpocken.“ Dummerweise hatte ich diese Kinderkrankheit nie gehabt, obgleich ich so ziemlich alles hatte. Die Windpocken sind für Erwachsene nicht angenehm, da das Fieber auf bis zu 39 Grad oder noch mehr steigt. Schlimmer noch: Gesicht, Körper, Oberarme, ja Ohren und Nasenflügel sind mit Pusteln übersät, und die Pusteln jucken und gehen auf, und man darf im Schlaf nicht kratzen, sonst bleiben Narben und Löcher zurück. Vier Wochen lang läuft man mit blutenden Stellen im Gesicht herum, für alle sichtbar, und sieht aus, als hätte man eine volle Ladung aus einem Luftgewehr abgekriegt.

Ich mußte dem Warenhaus am Montag Bescheid geben, daß ich nicht mehr zur Arbeit kommen konnte. Eins der rotznasigen kleinen Kinder hatte mir wohl den Krankheitskeim weitergegeben, mir aber in gewisser Weise auch den Keim für ein Buch vermittelt. Fieber wirkt phantasieanregend. Ich fing nicht sofort an, das Buch zu schreiben. Ich lasse eine Idee lieber ein paar Wochen lang vor sich hin „köcheln“. Und außerdem meinten mein Verleger und auch mein Agent, nachdem Zwei Fremde im Zug erschienen und kurz danach an Alfred Hitchcock verkauft worden war, der einen Film daraus machen wollte: „Schreiben Sie ein nächstes Buch vom gleichen Typ, das stärkt Ihren Ruf als...“ Ja, als was? Zwei Fremde im Zug war bei Harper & Bros., wie das Verlagshaus damals hieß, in der Thrillerreihe erschienen. So war ich also über Nacht zur Thrillerautorin geworden, obgleich mein erstes Buch meiner Ansicht nach keiner besonderen Kategorie angehörte, sondern einfach eine spannende Geschichte war. Wenn ich nun einen Roman über eine lesbische Beziehung schrieb - würde ich dann als Autorin lesbischer Bücher etikettiert werden? Das war immerhin möglich, auch wenn ich nie wieder in meinem Leben ein ähliches Buch schreiben würde. Also entschied ich mich, das Buch unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen. 1951 war das Buch fertig. Ich konnte es nicht einfach für zehn Monate beiseite schieben und etwas anderes machen, einzig weil es aus kommerziellen Erwägungen heraus klug gewesen wäre, einen weiteren Thriller zu schreiben.

Harper & Bros. lehnten Carol ab, also mußte ich zu meinem Bedauern einen anderen amerikanischen Verleger finden. Ich hasse es, den Verleger zu wechseln. Als Carol 1952 als gebundenes Buch erschien, erhielt es einige ernsthafte und ganz respektable Rezensionen. Der eigentliche Erfolg aber kam ein Jahr später mit der Taschenbuchausgabe, von der fast eine Million Exemplare verkauft wurden und die sicherlich von noch mehr Leuten gelesen wurde. Die Fanpost war an Claire Morgan zu Händen des Taschenbuchverlags adressiert. Ich erinnere mich, daß ich über Monate mehrmals wöchentlich Umschläge mit bis zu zehn, fünfzehn Briefen zugeschickt bekam. Eine ganze Menge davon habe ich beantwortet, aber ohne Formbrief waren sie nicht zu bewältigen, wozu es aber nie kam.

Die junge Heldin meines Buches mag manchen heute wie ein schüchternes junges Ding vorkommen, doch muß man sich vorstellen, daß die Bars, in denen Homosexuelle verkehrten, damals dunkle Eingänge in Manhattan waren und daß ihre Gäste, um sich ja nicht verdächtig zu machen, lieber eine Station vor oder nach der ausstiegen, von der aus die betreffende Bar bequem zu erreichen gewesen wäre. Carol fand ein so starkes Echo, weil der Roman mit einem Happy-End für die beiden Heldinnen aufhört oder weil sie zumindest versuchen wollen, künftig zusammenzuleben. Bis zu diesem Buch mußten weibliche wie männliche Homosexuelle in amerikanischen Romanen für ihre abseitigen Neigungen büßen, indem sie sich die Pulsadern aufschnitten, sich in einem Swimmingpool ertränkten oder indem sie zu heterosexuellen Beziehungen „überwechselten“, wie man das damals nannte, oder allein, elend und gemieden in qualvolle Depressionen fielen. Viele der Briefe, die ich bekam, enthielten Aussagen wie: „Ihr Buch ist das erste dieser Art, das gut ausgeht! Wir begehen keineswegs alle Selbstmord, und vielen von uns geht es sehr gut.“ Andere schrieben: „Danke, daß Sie diese Geschichte geschrieben haben. Sie ist meiner eigenen nicht unähnlich...“ Oder: „Ich bin achtzehn und lebe in einer Kleinstadt. Ich fühle mich einsam, weil ich mich mit niemandem aussprechen kann...“ Manchmal riet ich den Schreibern oder Schreiberinnen dazu, in eine größere Stadt zu ziehen, wo die Chance, mehr Menschen kennenzulernen, größer ist. Soweit ich mich entsinne, kamen ebensoviele Briefe von Männern wie von Frauen, was ich als gutes Omen für mein Buch ansah. Und das erwies sich als richtig. Über die Jahre erhielt ich immer wieder Briefe, sogar jetzt noch kommt ein- oder zweimal im Jahr ein Brief von einem Leser oder einer Leserin. Ich habe nie wieder ein Buch dieser Art geschrieben.

Patricia Highsmith: Carol . Roman einer ungewöhnlichen Liebe. Aus dem Amerikanischen von Kyra Stromberg. Diogenes -Verlag, 416 Seiten, 34 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen