piwik no script img

Verfassung-betr.: "Kohl will kalten Anschluß der DDR", taz vom 2.3.90 / -betr.: "Grundgesetz-Chauvinismus... oder neue gesamtdeutsche Verfassung", taz vom 3.3.90

betr.: „Kohl will kalten Anschluß der DDR“, taz vom 2.3.90

Wenn der spätbegnadete Kanzler etwas sagt, setzt sich die Linke sofort für das Gegenteil ein - an diesen Reflex erinnert die beginnende Diskussion über die Wahl zwischen einem Anschluß der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz oder eine Vereinigung über Artikel 146 GG.

(...) Was gibt Anlaß zu der Hoffnung, daß eine neue gesamtdeutsche Verfassung für linke Politik brauchbarer sein wird, als das jetzige Grundgesetz? Sollte nicht der schnelle Wandel der DDR-„Revolution“ von einer linken, sozialistischen Bürgerinitiativbewegung zur nationalistischen Anschlußbewegung eine Lehre sein? Wenn also schon der DDR eine (zahlenmäßig!) nennenswerte Unterstützung für eine bessere Verfassung nicht zu organisieren ist, wo sollte insoweit im Westen die Schubkraft herkommen? Aus den zerfallenden „Grünen“, den kaum noch existenten sozialen Bewegungen oder gar der SPD?

(...) Bevor wir aber das Grundgesetz und damit eine der Arbeitsgrundlagen linker Politik aufs Spiel setzen: Das Nachdenken, wie (un-)realistisch die Möglichkeit einer besseren Verfassung ist, lohnt. Und wenn am Ende dieser Überlegungen das Plädieren für einen Anschluß nach Artikel 23 GG steht, dann ist das jedenfalls nicht bereits deshalb falsch, weil Kohl dasselbe sagt.

Thomas Henne, Heidelberg

betr.: „Grundgesetz-Chauvinismus... oder neue gesamtdeutsche Verfassung?“, taz vom 3.3.90

(...) Zur Zeit wird von einer Reihe Leuten die Forderung nach einer „verfassungsgebenden Versammlung“ nach Art. 146 Grundgesetz erhoben, die eine neue Verfassung anstelle des Grundgesetzes basteln soll und damit einen Anschluß der DDR nach Art. 23 verhindern soll. Merkwürdig sind dabei allerdings die Begründungen für diese Forderung: Da werden plötzlich alle möglichen politischen Wünsche an eine solche neue Verfassung adressiert, von den Rechten der Frau über den Umweltschutz als Staatsziel bis hin zu mehr Dezentralität und Föderalismus und zur Entmilitarisierung. Alles ehrenwerte Ziele, für die wir seit Jahr und Tag eintreten, außerparlamentarisch wie im Bundestag und diversen anderen Parlamenten, mit dem bekannten mäßigen Erfolg, wenngleich nicht ganz erfolglos.

(...) Jetzt lamentieren plötzlich viele Grüne, „wo bleiben wir denn mit unseren Vorstellungen, wenn die DDR nach Art.23 angeschlossen wird“? In der ganzen Anschlußdiskussion springe man nicht auf einen fahrenden Zug auf, wenn man sich darauf positiv beziehe und etwa eine verfassungsgebende Versammlung für Deutschland fordere, sondern man „stelle die Weichen für den fahrenden Zug“. Wie absurd. Jahrelang mühen sich die Grünen im Bundestag ab und bringen nicht viel zustande, und jetzt kommt plötzlich eine „verfassungsgebende Versammlung“ und ruckzuck setzen unsere tollen ParlamentarierInnen alles das durch, worauf wir schon lange warten. Heraus kommt eine Verfassung mit vielen neuen Grundrechten und am besten ohne Notstandsgesetze. Leider handelt es sich bei diesen Vorstellungen um vollkommen realitätsfremde Traumtänzereien.

Das einzig Positive wäre eine gewisse Verzögerung des Anschlusses (deswegen ist Kohl dagegen), aber lange rauszögern könnte sie es nicht. Das wäre es aber auch schon an Postivem. Dummerweise würden nämlich die gleiche CDU/CSU und SPD, die auch im Bundestag die Zweidrittelmehrheit haben, mit ihren DDR-Filialen auch eine solche Versammlung kontrollieren. Und ob diese Leute heute noch mal zum Beispiel das Asylrecht so pauschal wie im Grundgesetz in die Verfassung schreiben würden, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. (...)

Gäbe es wegen des Anschlusses der DDR eine „verfassungsgebende Versammlung“, wäre ihr Produkt allem heldenhaften Einsatz ihrer grünen Mitglieder und der taz zum Trotz mit großer Sicherheit schlechter als das Grundgesetz der BRD. (...)

Also gut, sollen sie (die DDR-Bevölkerung) es haben Selbstbestimmungsrecht usw. Der Anschluß wird durchgesetzt, dann aber bitte auf der Basis von Art.23 und ohne „verfassungsgebende Versammlung“, und wir behalten das Grundgesetz. Gegen eine Reihe Verbesserungen des Grundgesetzes ist selbstverständlich nichts einzuwenden, aber: In Ausübung meines Selbstbestimmungsrechts will ich keine schlechtere Verfassung als jetzt. Eine bessere neue gesamtdeutsche Verfassung werden den DDRlerInnen und uns CDU/CSU und SPD nicht zugestehen. (...)

Jürgen Maier, Bundesvorstand der Grünen

Die Verfassungsdebatte ist ja nun allenthalben ausgebrochen, auch wenn sie sich hier im Westen bisher vor allem auf Artikel 23 Grundgesetz gegen Artikel 146 Grundgesetz beschränkt.

Der Runde Tisch der DDR geht derweil wesentlich inhaltlicher vor. Deshalb sollten alle Kräfte, die die DDR nicht einfach aufkaufen wollen (Artikel 23), diese Verfassungsinitiative vehement unterstützen. Auch die linken Kräfte, die immer noch der Zweistaatlichkeit anhängen oder nachtrauern, sollten sich nicht handlungsunfähig machen. Alle Kräfte, die eine weitere Demokratisierung und den Schutz der Umwelt wollen, müssen diese Verfassungsdiskussion als Chance begreifen, die nur genutzt werden kann, wenn diskutiert, mobilisiert und handelnd eingegriffen wird.

Eine demokratische Handlungsgrundlage hierzu können die Vorschläge des Runden Tisches sein, auch wenn man der DDR „Verfassungskultur“ - was immer das für R.Leicht in der 'Zeit‘ bedeutet - abspricht. (Dabei ist das hiesige Grundgesetz niemals von der Bevölkerung in einem Wahlakt legitimiert worden. Ist das die „Verfassungskultur“?)

W.Ullmann von Demokratie Jetzt macht ja schon gute Vorschläge, in welche Richtung (vorgezogene Bundestagswahlen) es gehen könnte. Endlich mischt sich jemand aus der DDR bei uns ein. Vielleicht haben wir das nötig!?

Manfred Claudi, Berlin

Man fragt sich, wie können wir und wie können Bürger der DDR das Grundgesetz mit gemeinsamen Augen sehen, das ihnen unsere Politiker so warm empfehlen? Schauen wir zuerst auf den Artikel unseres Grundgesetzes, der diesen Lesevorgang garantiert: Artikel 5 (Meinungsfreiheit): Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten...

Der entsprechende Artikel 27 wäre: Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundrechten dieser Verfassung gemäß, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern...

Wir beanspruchen hier mit gutem Gewissen, wir hatten nie ein besseres Grundgesetz, und auch die Beamten schwören ja mit gutem Gewissen darauf. Da aber bei uns bekanntlich alles besser ist, sollte man auch einen Schritt weitergehen und fragen, wie sieht es denn bei uns mit diesen das Grundgesetz schützenden Geheimdiensten aus? In der DDR haben die Bürger die sie und ihre Meinung bedrohenden Dienste radikal abgeschafft, das Fernsehen zeigte das. Aber was sagen die Bürger der DDR denn zu unseren Diensten? Wer weiß es schon, daß sie zum Beispiel über einen neu einzustellenden Arbeitssuchenden gegen geringes Entgelt bereitwillig Auskunft geben? Ob damit jeder Bürger der DDR einverstanden sein wird?

Was weiß eine Bürger hier über die elektronische Datenspeicherung bei der anstehenden Digitalisierung des Telefons und was stellt sich eine Bürger dort darunter vor? Oder etwa, was unter einer Bankauskunft, die wohl kaum detaillierter über das Verhalten eines Bürgers in seinen Geldangelegenheiten Auskunft geben kann bis hin zu seinem letzten Pfennig, den er hat oder nicht hat. Welcher Bürger weiß, woher solche Institutionen das Recht dazu haben? Oder leitet sich das Recht nur aus dem kumulierenden Verhalten des Geldes ab, Geld kommt zu Geld und Geld hat das Sagen, wie es oft den Anschein hat? Stimmt das noch mit unserem Grundgesetz überein?

Aber, es muß das wohl erlauben und wie sieht nun tatsächlich der Alltag bei uns aus, ohne daß wir andauernd mit einem Rechtsanwalt an der Hand durchs Leben gehen?

Martin Schirr, Bad Pyrmont

Ulrich Preuß plädiert für eine gesamtdeutsche Verfassungsgebung. Diesem Plädoyer liegt, wenn ich es richtig verstanden habe, der folgende Gedanke zugrunde: Der Idee einer politisch konstituierten deutschen Gesellschaft ist der Vorrang vor derjenigen einer deutschen Volksgemeinschaft einzuräumen, weil letztere die Gefahr eines sie insgesamt „umgreifende(n) geschlossene(n) Nationalstaat(es)“ in sich berge.

Für mich wird bei diesem Plädoyer nicht eindeutig erkennbar, welche Bedeutung der Begriff „Nation“ für den Verfasser hat. Steckt hinter diesem Wort ein vielleicht an Herder orientierter Begriff der Kultur-Nation oder - etwa von französischem Verfassungsdenken hergeleitet - derjenige der Staats-Nation? Wie dem auch sei, auch die von Preuß befürwortete gesamtdeutsche Verfassungsgebung wird zu einem deutschen Staat aus Bundesrepublik und DDR führen, der mit ca. 80 Millionen Menschen das volkreichste Land Europas werden wird und aufgrund seiner wirtschaftlichen Macht in absehbarer Zeit eine Vorherrschaftsstellung gegenüber allen anderen europäischen Staaten einnehmen wird.

Diese Gefahr ist aus föderalistischer Sicht nur dadurch zu vermeiden, daß die Länder der Bundesrepublik und die bald entstehenden Länder der DDR autonome regionale Gliedstaaten einer künftigen europäischen Föderation werden. Ihrer kulturellen Einheit kann durch die Einrichtung nur kultur und wissenschaftspolitischer Befugnisse besitzender gesamtdeutscher Legislativ-, Exekutiv- und Judikativorgane Rechnung getragen wird. Dieses Modell einer Eingliederung der Deutschen in den europäischen Einigungsprozeß beruht auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen den Begriffen „Kulturnation“ und „Staatsnation“, wie sie zum Beispiel der französische Verfassungsrechtler und Ethnologe Guy Heraud von der südfranzösischen Universität Pau vornimmt.

Lutz Roemheld, Fröndenberg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen