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Keine Details, kein Ornament

■ Über das Theater der Lyndi Annis

Isolde Charim

Eine ganz kleine Bühne - leer bis auf einen Einkaufswagen aus einem Supermarkt. Der Oberkörper von Lindy Annis hängt darin - ihre Zehenspitzen berühren kaum den Boden. So schiebt sie sich langsam über die Bühne und spricht zwischen den Stäben hervor. Shopper heißt die Szene und ist vor allem die Aufzählung einiger Supermarktgüter in wechselnder Reihenfolge. Sie spricht Englisch - eigentlich Amerikanisch: eine Reihe formelhafter Zeichen, wie „economy size box“, die immer wiederkehren - „Shopper“ eben. Das erinnert an Andy Warhols „brillo boxes“.

Es ist ungewöhnlich - so etwas Einfaches, Leichtes in einem derart traditionsgesättigten Medium wie dem Theater. Man hatte sich schon daran gewöhnt, das Theateravantgarde meist Eliminierung der Dramaturgie und stereotypisierte „Ur-Sznen“ (Geburt, Liebe, Tod u.ä.) heißt - ein Aufheizen durch schwere Inhalte.

Lindy Annis hingegen kühlt das Theater ab: Statt neuer Bedeutungen führt sie den Comic ein. Keine Details, kein Ornament, keine „persönliche Handschrift“ - selbst dort nicht, wo es unumgänglich scheint: Ihre Stimme ist gänzlich von ihren Bewegungen abgekoppelt und könnte von einer Sprechblase kommen; die Präsenz ihres Körpers macht sie zur Erinnerung an Fritz the Cat. In Confection, einer anderen Szene, ist es nicht sie, die das Bild zum Ton abgibt, sondern Zeichnungen, die sie vorzeigt. Ohne daß das einen Unterschied machen würde. Denn es gelingt ihr, ihre Bewegungen, ihren Körper so zu schematisieren wie ihre Zeichnungen: keine Details, kein Ornament, keine „persönliche Handschrift“.

Ebenso löst sie ihre Geschichten in eine Aufzählung von Situationen und die Aufzählung von Situationen in eine Aufzählung von Dingen auf. Das ist das Resultat: eine Aufzählung von Dingen - wie bei Shopper -, der sie ihren Körper oder ihre Zeichnungen leiht. Also beschreibt man Lindy Annis‘ Auftritte am besten, indem man ihre Aufzählungen aufzählt.

Die Aufzählung von dem,

was sie kaufen möchte,

was ein zu Geld gekommene Ostdeutscher sich kauft,

was sie kauft,

was sie sich vom Weihnachtsmann wünscht,

was sie haßt,

was man tun kann nach nur fünf Stunden Schlaf,

wie man zu einem Kind kommt.

Dieser Ausführlichkeit bedarf es, wenn die Dinge keine Beispiele, keine Repräsentation sind - wenn sie nur sie selber sind. Also muß man ihnen mit der Aufmerksamkeit begegnen, die ihre Eigenständigkeit verlangt und jedes Ding

-befreit vom Gewicht eines übergeordneten Sinns - einzeln benennen.

Neben der Leichtigkeit, die sie so erreicht, haben ihre Auftritte aber noch einen anderern, einen ganz besonderen Reiz. Dazu gehört vor allem der Ort, den sie für ihre Auftritte wählt: z.B. ein Lokal, das von außen mehr wie ein Bretterverschlag aussieht. Wenn man nicht weiß, daß hier etwas passiert, läuft man achtlos daran vorbei. Aber genau darauf kommt es an: es zu wissen. Per Mundpropaganda zirkuliert die Nachricht, wann Lindy Annis auftritt und vor allem wo. Lindy Annis in der Galerie SoToDo. Aber die Galerie SoToDo bezeichnet keinen Ort. Sie taucht mal hier auf, mal dort. Wo sie auftaucht, dort ist die Galerie SoToDo. Sie ist ein mobiler Ort in der Stadt. Das macht die Stadt zu einem riesigen „Feld“, in dem es gilt, seine eigenen Gebiete zu erobern - oder anders gesagt: sich als „Clan“ zu organisieren. „Clan“, das heißt zunächst Ausschluß. Man verwischt seine Spuren für Fremde. Nur die „Clanmitglieder“ erhalten die Information - nur sie finden die eigenen Orte. Eigentlich aber ist es mehr als ein Finden: Orte, die brachliegen, von denen sich die Zivilisation zurückgezogen hat, werden entdeckt. Ohne sie zu polieren - nicht als gesunkenes Kulturgut - werden sie gerade als verlassene rezipiert.

Subkkultur wäre, diese Nischen, die Brüchigkeit zu besetzen - also dort zu sein, wo eine intakte Kultur nicht mehr ist. Aber dort zu sein, ohne durch die Anwesenheit das Verlassene zu einem Nicht-Verlassenen zu machen. Vielleicht ist das subversiv. Dann hieße subversiv, dort zu sein, wo die Macht nicht mehr ist.

Daran wird auch deutlich, wie sehr diese kulturelle Praxis an Berlin gebunden ist. Denn gerade Berlin besteht aus diesen Ruinen ehemaliger Macht und Öffentlichkeit. Gerade hier gibt es die Alliierten, deren Versteigerungen Zugang zu den Armeebeständen bieten. Und gerade hier gibt es den Osten mit der Exotik seiner Produkte: Höhepunkt der Standardisierung, wo jedem Begriff eine einzige Art Produkt entspricht. Keine Details, kein Ornament, keine „persönliche Handschrift“ - die ästhetische Besetzung ist dieselbe wie bei Lindy Annis und ihren Dingen. Insofern ist Lindy Annis trotz ihrer Einmaligkeit - kein isoliertes Phänomen. Sie ist genauso Teil des „Clans“ wie ihr Publikum, indem sie an derselben ästhetischen Praxis teilhat. Daran wird auch deutlich, daß der „Clan“ nicht in erster Linie eine verschworene Gemeinschaft ist, wie es für den Außenstehenden zunächst scheinen mag, sondern vor allem dies: eine bestimmte kulturelle Praxis einer Anzahl von Leuten. Lindy Annis‘ Funktion ist es aber, durch ihre Auftritte diese „Praktikanten“ überhaupt als die Gruppe zu bestätigen, die sie hervorgebracht hat. Selbst wenn ihre Auftritte - ob ihrer steigenden Popularität - schon jetzt die Grenzen der „Clanorganisation“ überschreiten; selbst wenn das Ende Berlins als Frontstadt sie nunmehr zur Exponentin einer untergehenden Kultur macht (wie geht eigentlich eine Kultur des Untergegangenen, des Verlassenen mit ihrem eigenen Untergang um?) - so bleibt es doch diese ästhetische Praxis, die sie sichtbar macht.

All dies ist präsent (und ist eben dieser besondere Reiz), wenn das Publikum sich gefunden hat und Lindy Annis beginnt: „Whenever I go to the supermarket...“ Solcherorts aufzutreten, Englisch zu sprechen, mit amerikanischen Ikonen zu operieren - Lindy Annis leiht dem Clan das Gewicht des New Yorker Underground. Und sie geht sorgsamst damit um. Ihre Auftritte sind selten - also kostbar. So bewahren sie ein Moment von Flüchtigkeit, von Nicht-Fixiertem. Sich im Flüchtigen zu etablieren (ebenso im Verlassenen als Verlassenem), das ist das Kunststück, gewährleistet durch die Wiederholbarkeit ihrer Stücke. Ihre Auftritte erreichen, daß dieselben Leute sich vor denselben Stücken wiedererkennen. So werden solche, im Theater ungewohnten Sätze möglich. „Hoffentlich kommt First Comes Love“ - so ein Zuschauer - „das ist mein Lieblingsstück!“

Lindy Annis, Confection + Desire, 16.-18.3., 21Uhr, im SchwuZ, Hasenheide54, 1Berlin61

23.-25.3. und 30.3.-1.4. in der Tanzfabrik, Möckernstr.68, 1/61

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