: „Deutschland darf nicht diskriminiert werden“
■ Karl Lamers, abrüstungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, über die Integration eines vereinten Deutschlands in einer künftigen europäischen Verteidigungsstruktur / Streitkräfte dann auch gegen potentielle Bedrohung „aus dem Bereich der Dritten Welt“ einsetzbar
taz: Herr Lamers, Sie fordern jetzt im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung eine Forcierung der eigentlich alten Pläne für eine Europäische Verteidigungsunion. Früher wurde darunter eine westeuropäische Sicherheitsunion, der sogenannte europäische Pfeiler der Nato, verstanden. Die Basis dieser Verteidigungsstruktur soll nach Ihrem Konzept aber die EG sein, deren Ausweitung auf die osteuropäischen Staaten ja nun beginnt. Widerspricht diese wirtschaftliche Ausdehnung auf die nicht-sowjetischen Staaten des Warschauer Pakts nicht der Nutzung der EG als Struktur für militärpolitische Zwecke?
Karl Lamers: Nein. Die EG wird jetzt auch von der Sowjetunion als politischer Ordnungsfaktor auf dem Kontinent anerkannt. Der Warschauer Pakt ist in Auflösung begriffen, und die sicherheitspolitischen Interessen der nicht -sowjetischen Mitglieder des Warschauer Pakts stimmen mit denen der Westeuropäer überein. Diese bisherigen Länder des Warschauer Paktes können bei der integrierten europäischen Verteidigung einen besonderen Status haben. Daß solche flexiblen Lösungen möglich sind, sieht man ja jetzt bei der Diskussion über die Behandlung des DDR-Territoriums hinsichtlich der Nato-Mitgliedschaft. Es ist aber perspektivlos, diese Diskussion auf ein Ja oder Nein zur Nato-Mitgliedschaft zu beschränken, wie es jetzt leider getan wird.
Die Nato soll nach Ihren Vorstellungen ein Bündnis zwischen Europa und den USA werden, wobei Sie den USA die Rolle einer Garantiemacht für die europäische Ordnung zugedenken. Ist das die höfliche Form, die USA aus Europa hinauszukomplimentieren?
Im Gegenteil. Die USA haben in der Übergangszeit eine entscheidende und zentrale Rolle in Europa, denn sie müssen weiterhin das Gegengewicht bilden zu den erst noch im Abrüstungs- und Umwandlungsprozeß stehenden sowjetischen Streitkräften und gegenüber den Unwägbarkeiten der sowjetischen Entwicklung. Zudem dämpfen sie mit ihrer Anwesenheit die Befürchtungen in West wie Ost vor dem Übergewicht des vereinigten Deutschland. Sie müssen Initiator und Schirm sein für das Unterfangen der Europäer, die Hauptverantwortung für ihre eigene Sicherheit zu übernehmen.
Die Vereinigten Staaten müßten sich als hegemoniale Betreuungsmacht selbst überflüssig machen, indem sie der „Föderator Europas“ werden. In der neuen politischen Ordnung müssen sie die Rolle einer Garantiemacht übernehmen, wozu eine heute nicht näher definierbare Restpräsenz erforderlich bleibt.
Sie haben früher gesagt, die europäische Verteidigungsstruktur könne sich nur über die Achse Bonn -Paris entwickeln. Heißt das jetzt unter den veränderten Bedingungen: um die Achse Berlin-Paris? Also eine deutsch -französische Führungsrolle in Europa?
Führungsrolle ist ein problematischer Begriff, denn dazu gehören dann ja auch Geführte, und die hören das nicht gerne. Ich möchte lieber davon sprechen, daß Deutschland und Frankreich die Initiatorenrolle für die europäische Verteidigungsstruktur übernehmen, daß sie der Motor sind.
Ich bedauere sehr, daß Frankreich jetzt eher erschrocken auf die deutsche Vereinigung reagiert. Ich würde mir eine französische Initiative wünschen. Stellen Sie sich nur einmal vor, der französische Präsident hieße heute de Gaulle!
Welche Rolle werden die französischen und britischen Atomwaffen in einer Europäischen Verteidigungsunion spielen? Ihre Partei, die CDU, fordert in ihrem Programm schon seit einiger Zeit auch atomar integrierte europäische Streitkräfte. Muß dies nicht auf deutsche Mitverfügung über Atomwaffen hinauslaufen?
Ich will auch künftig kein deutsches Mitentscheidungsrecht. Wenn die Verschränkung der Streitkräfte allerdings so eng wird, wie ich es mir vorstelle, wird das ohnehin eine zweitrangige Angelegenheit. Wenn es einen gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsraum gibt, dann kann ein französischer Präsident oder eine britische Premierministerin gar nicht anders entscheiden als ein deutscher Kanzler. Die nuklearen Systeme werden insgesamt eine verminderte Bedeutung haben. In diesem insgesamt abgesenkten Rahmen können dann allerdings die britischen und französischen Nuklearwaffen eine größere Rolle spielen als bisher, weil sich die Potentiale der USA und der Sowjetunion verringern.
Der deutsche Nuklearverzicht soll nach Ihrer Ansicht bestehen bleiben, aber Sie haben davor gewarnt, Deutschland bei den kommenden Konferenzen über die Vereinigung besondere sicherheitspolitische Auflagen zu machen. An welche Auflagen denken Sie denn dann?
Ich gehe davon aus, daß das militärische Potential des wiedervereinigten Deutschland ungleich geringer wäre als die Addition von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee. Aber der Status Deutschlands darf nicht grundsätzlich anders sein als der der übrigen Länder der EG. Eine besondere Behandlung hätte eine besondere Entwicklung Deutschlands zur Folge.
Der Nuklearverzicht ist ein geschichtlicher Faktor, und ich will nicht den Eindruck erwecken, daß ich die Geschichte ungeschehen machen will. Eine Aufhebung dieses Verzichts ist unrealistisch, aber selbst wenn es realistisch wäre, wäre ich gegen eine Aufhebung des Verzichts.
Es ergeben sich zum zweiten gewisse Besonderheiten aus der geographischen Lage Deutschlands. Wir sind nun einmal das europäische Zentralland, daraus ergeben sich Verpflichtungen - zum Beispiel keine Nato-Einrichtungen auf DDR-Territorium
-, die aber nicht diskriminierend sind. Ansonsten muß Deutschland aber völlig gleich behandelt werden. Es darf keine Vorkehrungen geben, die eine gleichberechtigte Beteiligung Deutschlands an der Europäischen Verteidigungsunion erschweren oder ausschließen.
Die westlichen Nachbarn müssen sich darüber klar sein, daß die Alternative zu dieser europäischen Integration Deutschlands nur eine sehr weitgehende Demilitarisierung Deutschlands sein könnte, und die hat bislang keiner gewollt.
Gleichbehandlung, keine Diskriminierung - das hieße dann doch, das auf heutigem DDR-Gebiet zwar keine Nato -Einrichtungen stehen sollen, aber sehr wohl Einrichtungen der Europäischen Verteidigungsunion.
Darüber möchte ich mich jetzt nicht gerne äußern. Eine derartige Forderung wäre heute kontraproduktiv. Das sind Fragen, die nach einer Übergangszeit von zehn oder zwölf Jahren entschieden werden können. Entscheidend ist, wie die weitere Entwicklung in der Sowjetunion verläuft: Das ist der entscheidende und der mit den meisten Ungewißheiten belastete Faktor. Es kann nicht in allen Fragen, die in diesem Jahr entschieden werden, einen völligen Konsens mit der Sowjetunion geben, aber wir sollten ihr keine vermeidbaren Schwierigkeiten machen.
Mir scheint die Frage der Auflagen dann vor allem eine psychologische Bedeutung zu haben. Sie wollen im Rahmen der europäischen Verteidigungsintegration auch deutsche Truppen im Ausland stationiert sehen. Wenn man sich allein die Debatte um eine deutsche Beteiligung an UN-Truppen vor Augen führt, dürfte klar sein, daß Ihre Forderung auf atmosphärische Probleme stößt.
Die Diskussion bei uns zeichnet sich dadurch aus, daß sie im Schatten der Vergangenheit geführt wird, und ich weiß, daß das nicht völlig vermeidbar ist. Die Stationierung deutscher Truppen im Ausland wäre Ausdruck gemeinsamer europäischer Verbundenheit und Ausdruck der Nichtdiskriminierung Deutschlands. Davon verspreche ich mir eine positive Wirkung. Es muß alles getan werden, damit gerade auf dem für die Psychologie so wichtigen Gebiet des Militärischen nicht das Gefühl der Besonderheit in Deutschland aufkommt. Alle unsere Nachbarn müssen sehen, daß sie keine rückwärtsgewandte Lösung für Deutschland finden dürfen, sondern eine vorwärtsgewandte.
Ihre Argumentation ähnelt der von Willy Brandt in bezug auf den deutschen Nationalismus: Reizt uns nicht, sonst reagieren wir nationalistisch.
Ja, ich fühle mich in dieser Hinsicht mit Willy Brandt auf einer Linie. Am normalsten behandeln uns übrigens die USA: Sie sind sich ihrer Stärke gewiß und können es sich leisten.
Normale Behandlung: Heißt das, auch deutsche Beteiligung an einer europäischen Schnellen Eingreiftruppe, die von Ihnen schon früher befürwortet wurde? Oder: Halten Sie einen deutschen Oberbefehl in Europa für möglich?
Irgendwann sicher auch, aber es ist nun wirklich nicht das Vordringlichste, einen deutschen Oberbefehl zu fordern. Auch bei der Beteiligung an Aktionen in der Dritten Welt bin ich für etwas mehr deutsche Zurückhaltung. Aber wenn solche Aktionen in europäischem Interesse sind, sind sie auch in deutschem Interesse. Tendenziell sollten wir uns beteiligen wie die anderen auch, und nicht nur finanziell.
Stichwort Schnelle Eingreiftruppe: Die militärischen Vorkehrungen Europas müßten sich, so schreiben Sie in Ihrer jüngsten Studie, mehr an der Nord-Süd-Problematik als am schwindenden Ost-West-Konflikt orientieren. Wo sehen Sie denn eine Bedrohung, die solche europäische Rüstungsanstrengungen rechtfertigt?
Für die unmittelbare Zukunft noch in der Sowjetunion. Diese Bedrohung nimmt ab, aber wir müssen in der Lage sein zur Selbstbehauptung. Streitkräfte sind künftig nicht nur durch einen akuten Gegner legitimierbar, sondern als Mittel gegen potentielle Bedrohung.
Für die weitere Zukunft heißt das: Bedrohungen aus dem Bereich der sogenannten Dritten Welt, die ja den größeren Teil der Erde ausmacht. Der Irak hat zum Beispiel vor Weihnachten eine Rakete mit einer Reichweite von 2.500 Kilometern auf die Reise geschickt. Das reicht aus, um Rom zu treffen. Die Bedrohung aus einem Umfeld, wo Krieg die Regel ist, darauf müsen wir uns stärker als bislang einstellen.
Das klingt nach einem Beschäftigungsprogramm für MBB: Erst in diesen Ländern beim Bau der Raketen helfen, und dann hier dagegen rüsten...
Wenn es in solchen Fällen eine bundesdeutsche Hilfe gibt, dann ist das eine außerordentlich bedauerliche Angelegenheit, aber es ist zugleich eine komplizierte Materie, weil so etwas ja nicht auf dem offenen Markt geschieht.
Die Gesetzentwürfe zur schärferen Kontrolle des Rüstungsexports liegen seit einem Jahr vor und werden von Ihrer Fraktion blockiert.
Wir halten an diesen Gesetzesplanungen fest, aber die Beratungen haben gezeigt, daß es Probleme in der Abgrenzung von zivilen und militärischen Belangen gibt. Insgesamt gilt aber: Wir werden in Europa unser Exportverhalten restriktiver gestalten müssen. Der Waffenexport in den Nahen Osten ist gegen unser aller Interessen gerichtet und wirkt gegen uns selber zurück.
Interview: Charlotte Wiedemann
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