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Vom „Wirken des Staatsapparates“ unter Krenz

■ Die Stasi versorgte die SED im Oktober 1989 mit Strategiepapieren zum Vorgehen gegen Opposition und Kirche / Als besonders gefährliche Gegner wurden die in ihrer Gründungsphase befindliche Sozialdemokratische Partei und das Neue Forum ausgemacht / Geplant war eine Doppelstrategie von Repression und „ideologischer Offensive“ / Egon Krenz gab die Papiere ans Politbüro weiter / Die taz veröffentlicht Auszüge aus diesen „geheimen Verschlußsachen“ / Von Holger Eckermann

17.0ktober 1989. Das Politbüro des Zentralkomitees der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, tagt in der Hauptstadt der DDR. Auf der Tagesordnung: Die wachsende Oppositionsbewegung im Lande.

Doch an diesem Tag kommt alles anders. Bis zum nächsten Morgen wird über den Rücktritt von Erich Honecker diskutiert, dann heißt der neue Generalsekretär der Partei Egon Krenz. Zu seinem Einstand versorgt er die Genossen mit Lesestoff. Er überreicht den „Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros zur Aussprache auf der nächsten Sitzung“ eine „geheime Verschlußsache“. Autor: Stasi-Chef Erich Mielke. Titel des Dokuments vom 17. Oktober: Information über die weitere Formierung des NEUEN FORUMS und weiterer oppositioneller Bewegungen. Auf 23 Seiten wird das landesweite Engagement des Neuen Forums beschrieben. Die Kirche wird als Sammelbecken der Opposition scharf angegriffen.

Aufschlußreicher ist jedoch ein Papier, das Krenz von Innenminister Friedrich Dickel erhält: Dessen Standpunkt zum Vorgehen gegen die Gründung einer SDP in der DDR, wie der Titel des Dokuments lautet. Gemeint sind die Sozialdemokraten, die vor ihrer Umbenennung in SPD unter diesem Kürzel aufgetreten waren.

Krenz leitet dieses Papier an die „Genossen des PB“ (des Politbüros, d.Red.) weiter, wie er eigenhändig auf dem Deckblatt vermerkt. Dickel, der zugleich General der Nationalen Volksarmee ist, entwickelt in dem Papier, das auch vom 17.Oktober datiert, drei alternative Vorgehensweisen gegen die SDP und bittet um die Herbeiführung einer Entscheidung: Die Sozialdemokraten seien „anti-sozialistisch und verfassungswidrig“, dies stehe „zweifelsfrei“ fest.

Unter „Variante 1“ formuliert Dickel bereits die Gründe, warum eine sozialdemokratische Partei nicht zugelassen werden soll. Diese Gründe sollen „in einem mündlichen Gespräch mit dem Böhme“ mitgeteilt werden. Einen anderslautenden Bescheid erhielt die SDP erst am 6. Dezember.

In einem dritten Dokument vom 23. Oktober taucht diese Ablehnung der Gründung einer sozialdemokratischen Partei nochmals in einer überarbeiteten Fassung auf. Autoren dieser ebenfalls als „Persönliche Verschlußsache“ deklarierten Entscheidungsvorlage für das Politbüro sind Stasi-Chef Mielke, Innenminister Dickel, der Krenz-Nachfolger als ZK -Sekretär für Sicherheitsfragen, Wolfgang Herger, und dessen Abteilungsleiter Klaus Sorgenicht.

Der Beschlußentwurf fordert, daß „Anträge antisozialistischer Sammlungsbewegungen auf Bestätigung der Anmeldung zur Gründung einer Vereinigung nach gründlicher Prüfung zu versagen sind“.

Doch diese Vorlage beschränkt sich nicht auf ein rein repressives Vorgehen. Ergänzend wird dem Politbüro ein Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen, um Regimegegner „unter Nutzung aller Möglichkeiten der Gesellschaft zurückzudrängen“.

Gedacht ist an eine ideologische Offensive und öffentliche Auseinandersetzung in allen gesellschaftlichen Bereichen und den Medien über die von den Oppositionsgruppen aufgeworfenen Fragen und Probleme. Kader der Partei und der Massenorganisationen sollen aufgeboten werden, um einen „sachbezogenen Dialog mit allen Bürgern, einschließlich solcher, die von unserer Gesellschaftskonzeption abweichende Auffassungen vertreten“, zu führen und sie von den „marxistisch-leninistischen Antworten“ der SED zu überzeugen.

Das Vorhaben, mit einer Doppelstrategie von Repression und Überzeugungsarbeit die ideologische Hegemonie in der Gesellschaft zurückzugewinnen, ist bekanntlich mißlungen. Die Papiere machen deutlich, daß die Parteiengeschichte der DDR einen anderen Verlauf genommen hätte, wäre „das Volk“ nicht auf die Straße gegangen.

Und noch eins: Aus allen drei Dokumenten, die auf dieser Seite auszugsweise wiedergegeben werden, geht hervor, daß die ehemalige SED sehr früh begriffen hat, welche Gefahren ihr nicht nur von der Bürgerbewegung, sondern auch von einer Neuentstehung der Sozialdemokratie in der DDR drohen.

Die Wahlpropaganda der konservativen „Allianz für Deutschland“, nämlich die Gleichsetzung der SED-Nachfolgerin PDS und SPD, erweist sich auch vor diesem Hintergrund als durchsichtige Zwecklüge.

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