: „Bei uns herrschen eben die Emotionen“
Verfahrensfragen kränken Gorbatschow ■ I N T E R V I E W
Der junge Leningrader Abgeordnete Jurij Jurjevitsch Bodyrjew trat im Obersten Sovjet als einer der heftigsten Kritiker des für Gorbatschow maßgeschneiderten Präsidentenamtes auf und provozierte damals dessen heftigen Angriff auf die „überregionale Deputiertengruppe“ als Opposition. Auf dem Kongreß der Volksdeputierten intervenierte er häufig wegen Verfahrensfragen.
taz: Sind Ihre Interventionen ein Zeichen des Protestes gegen Gorbatschows Präsidentschaft?
Jurij Jurjevitsch Bodyrjew: Zur eigentlichen Frage der Präsidentschaft habe ich mich vor dem Obersten Sowjet geäußert, und ich habe damals gesagt, daß wir keinerlei Ausnahmen machen sollten, nicht wegen einer noch so außerordentlichen Situation und auch nicht wegen einer noch so guten Persönlichkeit. Und Michail Sergejewitsch war damals, wie auch in einigen ähnlichen Fällen, offensichtlich schrecklich gekränkt, obwohl ich gar nicht ihn persönlich beleidigen wollte. Wenn ich mich hier auf dem Kongreß der Volksdeputierten vorwiegend zu Verfahrensfragen geäußert habe, dann deshalb, weil ich sie für sehr wichtig halte, weil sie das Wesen unserer Beziehung zur Macht betreffen. Die Fernsehzuschauer registrieren sehr genau jeden Fall von Manipulation und jedes Mal, wo man uns das Wort nimmt. Denn wie können sie glauben, daß dies alles im Interesse der Konstitution sein soll, wenn man sich an die bereits geschaffenen Teile der Konstitution nicht hält.
Darauf haben Sie auch früher gedrungen.
Unser Parlament sollte seiner eigenen Tätigkeit ein wenig mehr Aufmerksamkeit zollen. Ich habe mich deshalb dafür eingesetzt, daß den Wählern zuliebe grundsätzlich alle Fragen namentlich abgestimmt werden. Das Präsidium des Obersten Sowjets warf mir dann vor, daß ich Steine zwischen die Räder des Parlamentes würfe.
Ist nicht die Beziehung der Opposition zur Gorbatschow insgesamt etwas neurotisch?
Das ist völlig richtig, und wahrscheinlich sind beide Seiten daran schuld. Niemand von uns kann das historische Verdienst Gorbatschows bezweifeln. Aber einige Führer der Opposition haben sich in letzter Zeit unter allen Umständen bemüht, den neuen Obersten Sowjet als unfähig darzustellen. Das ist ein populistischer Ansatz, der niemandem dient, außer dem Ehrgeiz dieser Leute. Und natürlich muß es Gorbatschow verunsichern, wenn sie einerseits zum Aufstand der Massen aufrufen und ihn doch ihrer Solidarität versichern. Andererseits zeigt Gorbatschow bei jeder Gelegenheit, daß er keinen Groschen für die Existenz dieser Opposition gibt.
Welche Rolle spielt in diesen Beziehungen die ANT-Affäre?
Das könnte der Beginn einer Wahlkampfintrige sein, und ich bin mehr dafür, daß man die Politiker nach ihrer offensichtlichen Tätigkeit beurteilt. Nicht nur Gorbatschow als Präsidenten, sondern auch den Präsidentschaftskandidaten Ryschkow.
In anderen Ländern könnte eine solche Affäre zum Rücktritt der Regierung führen.
Anderswo schon, aber bei uns herrschen, wie Sie sehen, die Emotionen. Und es genügt, daß dem Ministerpräsidenten die Stimme bricht, damit wir alle vor Mitleid mit ihm vergehen. Immerhin gilt er als Kämpfer gegen die Mafia, und ich befürchte, daß er bei geheimer Abstimmung nach alledem noch mehr Stimmen bekommen hätte.
Interview: Barbara Kerneck
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