: Was ist denn da zu sehen?
■ Jochen Gerz in der Hamburger Kunsthalle
Hermann Pfütze
So kann man aus der Kunsthalle eine Kunsthölle machen“, schrieb jemand ins Besucherbuch und hat damit nicht ganz Unrecht. In den entweder monströsen oder zu engen Räumen der Hamburger Kunsthalle zu stehn oder zu hängen, ist in der Tat für die Kunst eine Strafe. - Zu Recht für die Stilleben, Idyllen und Genrebilder des 18. und 19.Jahrhunderts in ihren düsteren Zimmern; zu Unrecht für die neueste experimentelle Kunst, die in kleine Kabuffs in den Keller gesperrt ist. Aber vielleicht fühlen die Sachen von Anna Oppermann und Christian Boltansky, von Lili Fischer und Beuys sich dort unten wohler als in den klassizistischen Riesenräumen, mit denen Jochen Gerz es aufgenommen hat.
Der erste Raum ist ein von acht hohen, kannellierten, grauen Säulen und flachen Stufen umgebenes Rondell, dessen Tempelaura gebrochen wird durch die großen, hellen Fenster mit Blick auf den Verkehr und die Baustellen am Hauptbahnhof. Genau in die Mitte des Fußbodenmosaiks hat Gerz 40 unverkleidete, schwarze Lautsprecher gelegt, deren Kabel locker und zart senkrecht nach oben zur Decke führen zu fünf hinter einer Abhängung verborgenen, Kassettenrecordern mit Endlosbändern. Man hört gedämpftes, sonores Heulen, Singen und Dröhnen, das immer leiser und differenzierter wird, je näher man hinhört. Auf den Lautsprechern liegt Nur eine einzige (geliebte) Rose?, mit Fragezeichen und inzwischen welk, so heißt die Installation. Hier „richtige“ Musik „hifi“ zu hören, wäre nicht schlecht, denke ich - ohne schon zu ahnen, was hier bei der Ausstellungseröffnung los war, als die Lautstärke größer war: „Eine Zumutung dieses Gejaule. Die Aufsichtspersonen können einem leid tun.“ - „Gott sei Dank, daß ich fast taub bin.“ - „Gerz ist lustig - warum ärgern sich alle über den Krach?“ Zwei Seiten mit solchen Bemerkungen stehn im Besucherbuch, aber keine darüber, daß dieser Pseudotempel die Ursache des Mißvergnügens ist. Ein Besucher schrieb: „Gut, daß es nur so wenige Werke waren. Nach der Frage, welchen Sinn sie haben, fiel mir nur Leere und Sinnlosigkeit ein. Das ist aber auch etwas, wenn nicht alles.“ Der Säulenraum ist leer und sinnlos. Gerz tröstet darüber nicht hinweg, etwa durch Verkleidung und Verfremdung des Raums, sondern er macht es deutlich. Auch im nächsten Raum, dem düsteren Parterre, von dem aus die Treppen ins Obergeschoß führen: Hier steht in Form eines rechtwinkligen Dreiecks von etwa sechs Metern Seitenlänge ein zwei Meter hohes grasgrün verkleidetes Kabinett. Ein spitzer Winkel öffnet sich in ein unbewegliches, gläsernes Drehkreuz aus Achtelsegmenten, durch das eine schwarz gekleidete Männerpuppe ins Kabinett tritt. Auf der gegenüberliegenden Seite kann man ins Kabinett gucken durch die Schablone einer schlanken nackten jungen Frau in Flopsprung-Rückenlage auf der sonst schwarz gestrichenen Glasscheibe. Links sieht man sich selbst in einem Spiel, wie man durch die Frau guckt und rechts steht ein lebensgroßes Foto des nackten Künstlers, montiert vor das wandgroße Foto eines spinnennetzartig auf den Fluchtpunkt zuschießenden Stahlgittertunnels. Komplettiert wird diese Peepshow durch den Museumswärter, der in einer dunklen Ecke des Riesentreppenhauses hockt, und durch das schwere Bronzerelief eines Rückenakts von Matisse, das dort immer hängt. Diese Installation heißt Sie (Es), englisch She (it): Bei Gerz gibt es wenig zu sehen, aber etwas wird sichtbar. Man fängt an zu gucken und zu horchen und hat den Eindruck, daß der Museumswärter und die Bronze von Matisse zu der Installation dazugehören und man selber auch. Gerz macht nicht eine Ausstellung, die überall möglichst ähnlich aufgebaut wird, sondern er arrangiert seine Sachen den Räumen entsprechend ganz unterschiedlich.
Oben in dem sehr großen Kuppelsaal schlägt zunächst das häßliche Licht aufs Gemüt. Trübe gelbweiß fällt es indirekt herab über graue Wände auf grauschwarze Synthetik -Auslegware. Angenehm ist nur der riesige Findling, auf den man sich sogar setzen kann, ohne, wie unten, über rotweiße Fußleisten mit der Warnschrift „Nicht berühren!“ zu stolpern. Dieser Stein will zurück zur Schleuder, aber das wird dauern, denn die Zwille aus hellem Holz ist etwa 20 Meter vom Stein entfernt auf einem weißen Sockel festgebunden. Auf drei großen Stellwänden an der Peripherie des Saals sind Foto-Arrangements zu sehen mit kargen Texten. Eins heißt z.B. Der Stand unserer Vorräte und besteht aus 54 Schwarzweiß-Fotografien und zwei Spiegeln, jeweils 40 mal 50 Zentimeter. Auf einem anderen, bestehend aus 30 solcher Fotos, steht In The Art. Nite. Auf beiden ist zwischen Weiß und Schwarz viel zu sehen, aber wenig zu erkennen; Kunst in der Nacht.
Umgekehrt die beiden anderen Bildserien: Auf ihnen ist wenig zu sehen, aber alles zu erkennen. Die eine heißt Call Me Traitor und belebt den Saal. Über 24 weiße Tafeln, in Viererzeilen nach rechts unten kippend, fallen 30 französische Wörter: „Pensee, Didactique, Nature, Liberte, Paix, Culture... Theorie, Famille, Art.“ - Alles, was zwischen Denken und Kunst eine Rolle spielt.
Die vierte große Foto-Installation heißt Das Rauchen und besteht aus 196 postkartengroßen Bildern eines Motivs: Eine öde Stadtrandgegend; viel steiniger Bolzplatz -Vordergrund; vor Laubbäumen ein paar Autos, rechts ein Wohnhaus, das auf einigen Fotos fehlt. Dahinter vor hellgrauem, konturlosem Himmel ein schlanker, hoher Schlot mit etwas Rauch, den der Wind fast flach nach rechts bläst; davor ein Lichtmast mit großer Tellerleuchte oben. Wenn man eine Weile davorsitzt, entdeckt man, daß es mindestens sechs verschiedene Aufnahmen sind. Auf manchen sind nur die beiden VW-Käfer und der Taunus 12 M zu erkennen, auf anderen auch links der helle Fließheck-Opel - mal ganz, mal vom Bildrand halbiert. Vor dem wiederum stehen in hellen Overalls mal zwei, mal drei Männer, wie Männer so um Autos rumstehen. Und auf einigen Bildern macht sich nur ein Mann an dem Opel zu schaffen. Es sind Fotos, die wir normalerweise quittieren mit Bemerkungen wie: „Was ist denn da zu sehen?“ „Warum hast du das denn so oft geknipst?“ „Warum bist du nicht näher ran ans Objekt?“ Gerz setzt dazu einen kurzen Text: „Was würden sie sagen? Würden sie das Spannen des Auslösers hören und im Schlaf (auch sie) das Echo der nichtendenden Salven? Würden sie seinen Atem hören? Des Jägers Atem und den Atem der Beute?“
Gerz‘ Bilder und Texte sind klar und knapp. Es ist nicht mehr drin als drauf und man kann nicht mehr herauslesen als drinsteht. Das gilt auch für seine Video-Arbeiten.
Der Weg zur Cafeteria führt durch eine Zimmerflucht voller Ölbilder in Goldrahmen aus dem 18. und 19.Jahrhundert, die nach der Gerzschen Augendiät einen Widerwillen gegen solche Fülle hervorrufen. Dann, in einem größeren Raum mit ein paar Bildern von Kirkeby, Lüpertz und Markus Oehlen, stockt der Blick vor einem Monitor. Von einem nach oben entschwindenden schwarzen Dreieck vor hellgrünem Hintergrund tropft es erst auf eine unten kurz auftauchende Brustwarze, dann in eine Kaffeetasse. Danach ein kurzer Text in Französisch: Bevor man sich erhebt, um den Raum zu verlassen, möge man sich neuerlich die Leute vorstellen, die jetzt nicht bei Tische sind. Von diesem Video habe ich nur den Schluß gesehen. Es heißt Ti amo.
Das nächste beginnt mit der Rückenansicht eines Mannes, der allein in einer Art Bahnhofsbistro am Tisch sitzt und starr hinausguckt, wo die erleuchteten Abteilfenster der Züge vorbeihuschen. Dazwischen eine zerwühlte rosa Decke, unter der es sich bewegt, und kurze, französische Sätze aus dem Off, z.B.: „Etwas haben, um es zu vergessen...“, „nichts zu machen...“ Das dritte Video schließlich, 1982 im Folkwang -Museum gemacht, ist lustig und hat so etwas wie eine Dialog -Handlung.
Gerz: „Ich denke, ich bin eine Frau; ich denke, ich bin in der Oper. Nur du machst es richtig, nur du bist mir wichtig.“
Frau: „Ja, Jochen, da treffen ja gleich am Anfang die willkürlichsten Antagonismen aufeinander...“
Gerz: „Ja, Angelika, fast... Was kann denn sich ähnlicher sein als die Sache selbst?“
Zu sehen ist dabei eine graue Strickmütze, die aussieht, wie wenn sie über einen Gartenzwerg gestülpt worden wäre. Das ist der Witz Gerzscher Werke: sie sind entstört. Das Sichtbare wird nicht durch scheinbar passende, d.h. unpassende Geräusche oder Reden gestört und das zu Hörende nicht illustriert. Beides paßt zueinander, weil eines nicht dem anderen dienen muß.
Gerz gehört, nach einer Unterscheidung John Bergers, nicht zu den Wunderkindern, die von allem, was sie machen, überwältigt werden, sondern ehrer zu den ihrer selbst hoch bewußten Künstlern, die ihre Sachen bis ins kleinste durcharbeiten und entwickeln. Die kleinen Sachen, z.B. die Videos und manche Texte, wirken dabei angestrengter als die großen, lakonisch-minimalistischen Foto-Arrangements. Sie sind in ihrer asketischen Strenge und Berechnung weniger mit Sichtbar-Faktischem besetzt als z.B. die Anstrengungen, die Gerz in den Videos mit sich selbst und den Sachen macht, die im Film eben eine Zeitlang erscheinen müssen. Was auf den Fotos zu sehen, gleichwohl nicht zu erkennnen ist, muß nicht erscheinen, es ist einfach da.
Jochen Gerz. Eine Ausstellung. Hamburger Kunsthalle, noch bis 1.April 1990, Katalog englisch/deutsch, gut gemacht und informativ, 20 DM
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