Der Kaffeesatz der Moderne

Dort, wo Frankreich seinen Traum vom „absolut modern sein“ endlich einmal zu Ende geträumt hat, dort liegt „La Defense“, 160 Hektar spiegelnde Utopie mit Bürotürmen, Wasserspeiern und dem größten MacDonald der Nation. 650 Hochglanzunternehmen haben hier in der Verlängerung der Champs-Elysees ihren Sitz, und 100.000 Angestellte entleert die Schnellbahn Tag für Tag auf das birnenförmige Areal.

Doch die Saga von dem Reichtum im Westen hat auch eine bunte Fauna von fliegenden Händlern, Sammlern und Jägern zu den Türmen gelockt. Glasflaschensammler und Melonenmänner, Bouquinisten und levantinische Kleiderhändler. Ungeplant und ungefragt sind sie dem Ruf der Moderne gefolgt und haben sich in ihren Nischen eingenistet. Und ganz wie die diskreten Manager der großen Firmen läßt sich keiner von ihnen gern in die Bilanzen schauen: „Sie wissen, mein Herr, das Finanzamt...“, entschuldigt sich, wenn er nach dem täglichen Umsatz gefragt wird, der Bonbon- und Lakritzverkäufer unter den Arkaden vor dem Esso-Haus. Und hebt an zu einem Klagelied über Frankreichs prohibitive Steuersätze, wie es kunstvoller auch im elf-Turm nicht gesungen wird.

Gaetan ist einer von denen, die Erfolg haben im Quartier. Ein innovativer Unternehmer im Dienstleistungsgewerbe. Sein Kabinett befindet sich in bester Lage und kennt weder Winterflaute noch Absatzschwierigkeiten: „Kein Wunder, denn ich arbeite pragmatisch und effizient. Das wissen die Leute in 'La Defense‘ zu schätzen.“ Ein dürres, unter seiner mächtigen Ballonmütze unentwegt rauchendes Männlein, dessen Beruf die Zukunft ist: Gaetan ist der Wahrsager der Manager von „La Defense“, Kaffeesatzleser des Kapitals und spiritueller Betreuer der Macintosh-Fanatiker.

Hinter seiner violetten Zeltbahn liest er ihnen allen aus den glatten Händen, und entdeckt in speckigen Tarotkarten und kryptischen Kaffeesätzen Berufungen, die jedem Personalchef verborgen bleiben müssen. „Ob Sie's glauben oder nicht: Ich erfülle eine Funktion in der Stadt. Die Leute hier haben oft Angst vor der Entlassung, oder sie wollen wissen, ob sie den Job wechseln sollen. Die wissen nicht mehr, welche Qualitäten sie haben, und wer sie in Wirklichkeit sind. Ich sage es ihnen“, denn Hände lügen nicht. Lebenshilfe in dreißig Minuten für 50 Mark, das ist recht und billig, und so empfängt Gaetans Kabinett in Stoßzeiten nur nach Voranmeldung.

Dubioser Schabernack wird hier nicht getrieben, denn der könnte sich unter den verschärften Konkurrenzbedingungen von „La Defense“ kaum halten: „Ich arbeite mit kabbalistischem Wissen, mit Empirie und Intuition“, sagt Gaetan, der von seiner elsässischen Großmutter ausgebildet wurde. Dieser pluralistische Ansatz sei der hochkomplexen Moderne weitaus angemessener als die computergestützte „Astro-Sph ere“ am Schnellbahnausgang. Die Leute aus den Büros kämen gerne zu ihm, sagt er. Vielleicht, weil sie keine Träume mehr hätten und die Türme ihnen den Horizont versperrten. Und daß es wohl eine Branche mit Zukunft sei. Aber nun müsse er ins Cafe und neuen Kaffeesatz holen.

Alexander Smoltcyzk