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Das Ende des Sozialismus als Happening

■ Die letzten 36 Stunden eines heruntergewirtschafteten Systems / Beobachtungen rund um den Alex

Frühaufsteher sahen alt aus: Statt den Tag in der Sonne zu verbringen, mußten sie an den Orten, wo der Wahlvorstand am Morgen nicht komplett angetreten war, einspringen. Die erste freie und geheime Wahl seit vierzig Jahren und das schöne Wetter trieben die DDR-BürgerInnen an die Urnen - und ins Freie. Zur Abwahl stand ein System, das das Land in den Bankrott trieb.

Beim Wachwechsel klicken die Kameras, als exerzierten die Soldaten zum letzten Mal. Die Papis halten die Söhne hoch: Dann marschiert die Ehrengarde vom antifaschistischen Mahnmal preußisch-exakt mit Stechschritt ins Zeughaus. Für die Volkskammerwahl hat Ost-Berlin sich fein gemacht: Unter den Linden ist alles geputzt, auf dem „Alex“ singen Krishna -Jünger ihr „Hare Hare“. Nebenan gibt's Orangen - drei Kilo 20 Mark -, und vor dem umzäunten „Palast“ wacht die Volkspolizei. Samstag nachmittag in Ost-Berlin, der offizielle Wahlkampf ist seit einem halben Tag beendet. Auch gegen Abend nimmt das Flanieren kein Ende. Unruhig drängen die Massen zum Brandenburger Tor und zurück, dann knipst die VEB-Elektro die Lichter an. Da leuchtet der Funkturm, da drüben die Oper, ein Neonspruch wirbt für Bitterfelder Chemie. Der Sozialismus geht in der Hauptstadt sehr schön zu Ende. Der Platz vor dem „Palast“ gleicht einer Mondlandschaft: Die Satellitenschüsseln sind schon in Betrieb. Die ganze Wahl ist ein Superlativ. 2.000 JournalistInnen spitzen die Stifte, 50 Fernsehstationen haben Stellung bezogen, die Antennen sind in Position gebracht. Die „Greifer“ der Sender machen sich fit: Nach Urnenschluß will jeder den Wahlsieger als erster.

Vor dem Marx-Engels-Denkmal drängelt man sich, hält Ausschau nach einer Kneipe. Doch auch 36 Stunden vor dem Ende des Sozialismus sind die Kellner noch nicht zurückgekehrt. So laufen die Metropolitaner planlos herum das Geld ist da, es fehlt allein am Schankwirt. Zwei U-Bahn -Stationen weiter, am Prenzlauer Berg, hocken die Helden von gestern. Das Problem mit dem Bier hat man hier gelöst: Seit 14 Tagen fließt es im „Cafe Westphal“ rund um die Uhr. Die Einrichtung ist karg, das Angebot spärlich. „Ein Wodka -Orange? Siehste das vielleicht im Regal?“

Die Luft ist dick, die Köpfe sind schon heiß. Ohne die Leute, die hier das Trottoir bevölkern, hätte es den Wahltag kaum gegeben. Wer im „Cawe“ sein Bierchen trinkt, der hatte was mit der Revolte zu tun. Aber die wenigsten von denen, die vor einem Jahr noch zwölf Jahre Knast riskierten, haben mit sich ausgemacht, was sie nun wählen sollen. „Bündnis90“, meint einer resigniert, der die Protesttransparente schon malte, als es wirklich noch gefährlich war. Eine Studentin erzählt frustriert, „Schwarze“ hätten in Leipzig „quasi Ausgangsverbot“, die Polizei hätte nichts mehr im Griff. Ach, wählen. Aber was? Selbst an die PDS hat sie schon gedacht, aber das wäre „nu wirklich verrückt“. Die Nächte in der Kneipe am Kollwitzplatz sind lang. Die Szene ist nicht einsam - aber schon wieder allein.

Am nächsten Morgen fegt einer die Bierflaschen weg, die Sonne sticht tief in die Augen. Der „Alex“, früher nichts als Beton, lockt zum Kinderfest. Die Steppkes ziehen die Schuhe aus und hopsen jauchzend auf einem monströsen Plastiktrampolin rum. Für Mutti gibts einen Frühlingsstrauß und Papa zischt für zwei Mark sein erstes Pils. Bezahlt wird mit Ost-Geld, die Preise sind saftig. „Peter Stuyvesant“ preist seine Glimmstengel an. „Come together“ - das Päckchen „West“ sieben Mark. Viele SpaziergängerInnen sind aus dem Westen, die Kamera gehört in Berlin wie andernorts der Regenschirm zum Gepäck. Berlin: Ein Geschichtsausflugsziel mit Zeitzeugengarantie. „Wir besuchen die DDR, solange sie noch steht“, meint ein junger Kerl, Wohnort jenseits der Mauer. Auch das Buden-Verkaufspersonal hat rübergemacht: Selbst die Würstchen kommen aus dem Westen. Ein Bratwurstunternehmer hat dem Volk aufs Maul geschaut: Bei ihm gibt's keine Ham- sondern DDR-Burger. Das Preisverhältnis liegt bei 3:1 - wer seine Kinder mit Haribo frohmachen möchte, muß für 100 Gramm sechs Mark bezahlen. Das ist vielen zu teuer: Auf der anderen Seite des Platzes gibts bewährtes Ost-Eis, die Tüte fuffzich Fennich. Vor dem Funkturm geht's um andere Werte: Rund 100 Menschen stehen im Pulk. Zwei Fahnen mit Hammer&Zirkel ragen aus der Traube raus. Eine Gruppe junger Leute wollte ins „Haus der Demokratie“, da beginnt bald eine Wahlparty. Daß sie noch immer die DDR-Fahne schwenken, kann ein Passant nicht verstehen. „Ihr seid wohl bescheuert!“, brüllt er, „was gibt's denn hier noch zu erhalten!“ „Wir wollen nicht einfach angeschlossen werden!“, ruft einer zurück. Und: „So toll ist das auch nicht im Westen.“ Die Menschenmenge weiß nicht so genau. Der Fahnenträger wird sauer: „Wir waren schon im Oktober auf der Straße! Jetzt laß mich hier durch!“ „Ihr habt doch'n Knall!“ „Und du bist bald arbeitslos!“ Applaus. Die erste Runde geht an die Linke. Ein paar Japaner machen Fotos, dann ziehen die jungen Leute ab. Zu einer Prügelei hat nicht viel gefehlt.

Die Sonne brennt, das Bier fließt in Strömen: Bis zum Nachmittag haben die meisten ihr Kreuz gemacht. Die Polizei meldet Ruhe auf beiden Seiten, nur ein paar Skinheads hätten Fahnen verbrannt. Die Soldaten am Mahnmal tragen schwer an ihren Wintermänteln. Die Nationalflagge am Staatsratsgebäude flattert trotzig im Wind. Die letzten 36 Stunden des Sozialismus: Nervöse Ruhe, mal sehen, was ... erst nach 18 Uhr passiert.

CC Malzahn

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