piwik no script img

Der Geschmack von Freiheit und Adenauer

Zur 50er-Jahre-Wahl in der DDR  ■ K O M M E N T A R

Die Geschichte wiederholt sich: 1948 wählen die Deutschen der alliierten Zone den Dollar, die Westintegration Adenauer; 1990 wählen die Bewohner der ehemaligen Sowjetzone die D-Mark, die Wiedervereinigung - Kohl. Daß uns der Oggersheimer eher wie der Enkel Lübkes anmutet, ist nur die Ironie der Geschichtsspirale, Kohl wurde gewählt, weil er Adenauer verspricht: erstens „Wirtschaftswunder“ und ansonsten „Keine Experimente!“. Mit Adenauer schworen die Parteigänger und rasenden Mitläufer der Nazis dem Hitlerstaat ab, um sich einer neuen Autorität, dem Kapital, an den Hals zu werfen - mit Kohl umarmen die Profiteure und Mitläufer des Stalinismus dieselbe Autorität, feuerfeste Antisozialisten über Nacht. So überaus begrüßenswert die Freiheit der Wahl in der DDR, so überaus käglich ihr Ergebnis, denn es scheint nur einen Schluß zuzulassen: Wir sind ein Scheiß-Volk. Wie uns damals kalter Krieg und Wiederbewaffnung als Mittel zum Wachstum recht waren, so kommt heute zuerst der „Golf“ und dann die Öko-Moral.

Der klammheimliche Wunsch, der sich angesichts der schwarzen Hochrechnungstürme am Wahlabend ins Hirn schleicht - es möge ein Arsch am Himmel zwischen Mecklenburg und vor allem Sachsen auftauchen und seines Amtes walten -, erweist sich dennoch als verfrüht. Wer sagt denn eigentlich, daß die Evolution im Sauseschritt voranschreiten muß? Hat die Bevölkerung der DDR, die 12 Jahre Hitler und 40 Jahre SED gewählt hat, nicht ein Recht auf ihren Adenauer? Ist es nicht geradezu geboten, im Sinne eines organischen Zusammenwachsens, daß die DDR unsere 50er Jahre noch einmal durchspielt? Mit Freßwelle, Modeschnickschnack und Italienurlaub im neuen Kleinwagen - und mit dem, was darauf folgte. Die Studentenbewegung, die antiautoritäre Phase, wartet auf ihre Wiederinszenierung auf den Straßen in Leipzig und Berlin - die scheinbar geschlagenen „Revolutionäre“ im Bündnis90 und anderswo sind längst nicht erledigt. Nicht nur, weil mit dem ersehnten Anschluß nach Artikel 23 natürlich auch die „Notstandsgesetze“ übernommen werden müssen, sondern weil die beiden Adenauer-Versprechen Kohls sich heute offensichtlich nicht mehr realisieren lassen: „Wachstum“ und „Keine Experimente!“ schließen sich gegenseitig aus. Jedes weitere Anheizen der Produktion ist das gefährlichste Experiment, das man den Lebensgrundlagen des Planeten zumuten kann.

Der herablassende Unmut, mit dem die Bundesbürger den kaufgierigen Übersiedlern und DDR-Besuchern begegnen, rührt vor allem daher, daß die anderen Deutschen wie ein Spiegel wirken: Wir erkennen in ihnen unsere eigene miese Konsumwut und Pfennigfuchserei. Und so sollten wir auch das Wahlergebnis in der DDR betrachten: als Spiegel der Verhältnisse hier, in denen wir mit „Kat“ und grünen Fähnchen so tun, als wären wir weiter, in Wirklichkeit aber die dumpfe Adenauer-Mentalität längst nicht überwunden ist.

Mathias Bröckers

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen