: Der Wille zum Placebo-Effekt
■ „Imitationen - Nachahmung und Modell: Von der Lust am Falschen“ - Ein Ausstellungs- und Buchprojekt über „Das Referentielle der Imitation und das Generierende der Simulation“ in Hagen
Mathias Bröckers
In der Nacht zum 1. November 1986 starben in Folge eines Brandes im Lager der Sandoz AG Hunderttausende Fische im Rhein. Eine gerichtliche Verurteilung der Verantwortlichen fand bis heute nicht statt. Verurteilt allerdings, wegen „vorsätzlicher Widerhandlung gegen das Tierschutzgesetz“, wurden der Regisseur Peter Aschwaden und ein Redakteur der Fernsehsendung „Jugendszene Schweiz“: Im Januar 1987 hatte der Regisseur den in einem Aquarium unter Beigabe der „authentischen“ Menge Sandoz-Gifts nachgestellten Todeskampf einer Äsche dokumentiert. Nach Ansicht des Gerichts handelt es sich bei diesem achtminütigen Kurzfilm „um eine allzu drastische Einwirkung auf die Meinungsbildung und auf den nach dem Großbrand erforderlich gewordenen politischen Entscheidungsprozeß„; um Betroffenheit zu erzeugen, hätte es genügt, auf vorhandene Bilddokumente „über die Bergung toter Fische und Aale aus dem Rhein“ zurückzugreifen.
Der Film läuft derzeit im Osthaus-Museum in Hagen, im Rahmen einer von Martin Heller, Jörg Huber und Hans Ulrich Reck konzipierten Ausstellung, die zuvor schon im Zürcher „Museum für Gestaltung“ zu sehen war: „Imitationen Nachahmung und Modell: Von der Lust am Falschen“. Auf dem Monitor neben dem Tod einer Äsche läuft ein anderer Simulations-Film, das Video-Baby der US-Firma „Creative Programming“, die verspricht: „Sie genießen das tiefe, schöne Erlebnis der Elternschaft ohne die damit verbundenen Ärgernisse.“ Auf bestimmte Zurufe reagiert das Video-Baby wie ein „echtes“ Kind. Als die ersten TV-Babys vor einigen Jahren auf den Markt kamen, hagelte es Meldungen und Berichte, meist solche der kopfschüttelnden, schmunzelnden Art - eine Haltung, gegen die das Ausstellungsprojekt Stellung bezieht: „Wer über das durch falsche Vorgaben ermöglichte echte Erleben sich empört oder mokiert, handelt vorschnell. Zu bedenken wäre: Wir alle imitieren, werden imitiert, orientieren uns an Imitationen und leben 'unser Leben‘ als Imitation. Doch nicht nur das: Der Imitation als Wahrnehmungs- und Aneignungsverfahren entspricht die Simulation als Prinzip der Entwurfsarbeit und Modellbildung. Zum Video-Baby gehört das Retorten-Baby, wobei die Relation dialektisch ist. Das vorgestellte Leben ist die Kehrseite des Ersatz-Lebens, jene des Imitierens die Devise des 'alles ist machbar‘.“
Platons Höhlengleichnis - wir können die Wirklichkeit nicht erkennen, sondern nur ihre Schatten, die durch den Eingang projiziert werden - wird durch die Kunst der Imitation vom Kopf auf die Füße gestellt: „Der Eingang zur Höhle wurde geschlossen, diese vom Licht des Rationalen erhellt, der Mensch entfesselte sich und produziert nun seine eigenen Schattenbilder. Auf diese Bilder zielt das Interesse unseres Ausstellungs- und Buch-Projekts: auf ihre Präsenz, ihre Herstellung und ihre Funktion.“ Es geht also nicht um das Phänomen äußerlicher Nachahmung und Täuschung, um gefälschte Bilder oder Kunstwerke, kein Kujau hängt in der Ausstellung, kein falscher Picasso oder van Gogh, und wenn doch, dann sind es Fälschungen, die ihr „als ob“ offenlegen. Wobei Bazon Brock in seinem Katalogbeitrag darauf hinweist, daß, wer heute mit göttergleicher Schöpfungskraft ein Kunstwerk im alteuropäischen Sinne herstellen will, zwangsläufig eine Fälschung begehen muß, diese „falsche Kunst aber insofern wieder die wahre ist, als sie ihre Falschheit nicht zu verstecken sucht, sondern gerade als ihr Problem vorführt“. Die Ausstellung verdeutlicht dieses Problem anhand einer Imitationskette, die von Masaccio und Michelangelo über Rubens und Delacroix bis zu Picasso und dem postmodernern „Appropriations-Künstler“ Mike Bidlo reicht, der 1985 die New Yorker Galerie Leo Castelli mit 80 berühmten Picassos im Originalformat vollstopfte. Sie waren mit „Bidlo“ signiert und sollten nicht als Scherz oder Schwindel verstanden werden, sondern als „politische Erklärung“.
Als Duchamp 1917 mit dem Readymade „Fontaine“ ein Pissoir ausstellte, besiegelte er nicht das oft beschworene Ende der Kunst, er eröffnete eine neue ästhetische Kategorie. 1964 ersetzte Duchamp das verlorengegangene „Original“ von 1917 durch eine neue „Original„-Fontaine - das erste Objekt in der Hagener Ausstellung ist ebenfalls ein solches Pissoir, 1973 installiert von Elaine Sturtevant: ein Original des Originals des Originals.
Das Konzept der Ausstellung geht hinaus über die paradoxen Spiele und selbstbezüglichen Spiegeleffekte der Kunst, hinein in den Alltag der Wahrnehmung, zum Beispiel die imitativen Analogien und ästhetischen Suggestionen, mit denen die Naturwissenschaft Unbegreifbares vorstellbar machen will. Dieses Spektrum reicht vom klösterlichen Anatomie- und Sexualunterricht anhand von Beispielen aus der Tierwelt bis zu modernen Computersimulationen des Urknalls, der DNS-„Kommunikation“ oder des Verhaltens mikrokosmischer Teilchen. Hier wird kein Original imitiert - niemand weiß, ob der Urknall überhaupt stattfand oder wie ein Quark aussieht -, sondern die Simulation hat den Zweck einer Selbstvergewisserung: dem „Beweis“, daß das Original, die Natur, so uhrwerkartig funktioniert, wie es sich unser Mechanikerverstand vorstellt, der seinerseits nur existiert, weil sich die gefälschten, „wissenschaftlichen“ Bilder der unsichtbaren Natur immer wieder durchsetzen. Kunst ist nicht mehr ein Spiegel der Wirklichkeit, sondern die „Natur“, so Hans-Ulrich Reck im Katalog, „ist eine Projektionsleinwand für die ästhetischen Suggestionen“ von Kunst geworden... Der Blick auf die „unsichtbare Natur ist determiniert durch die ästhetisch-künstlerisch vorgeformten Suggestionen menschlich gesetzter, poetisch kreierter Bedeutsamkeit.“ Naturbeobachtung, die auf derartig subjektives, weil ästhetisches Instrumentarium angewiesen ist, kann nicht länger beanspruchen, „objektiv“ zu sein - und tatsächlich vermitteln die simultan laufenden Videos alles andere als den Anschein von Objektivität: Die Simulationen ähneln einander sehr stark, obwohl es sich um so verschiedene Dinge wie den Ursprung des Universums im „Urknall“, die Aktivität des Aidsvirus oder die „Sprache“ der DNS-Moleküle handelt und sie schließen dramaturgisch nahtlos an die digitalisierte Beziehungskiste an, die zu Mick Jaggers Hard Women als Videoclip läuft. Es gibt, so zeigt dieses Beispiel, nicht nur selbstironische Lust am Falschen, sondern auch einen Zwang dazu - dann aber kommt die Simulation nicht selbstironisch, sondern mit heiligem wissenschaftlichem Ernst daher, wird nicht als mögliche, sondern als authentische Realität verstanden und als Handlungsanweisung gelesen: Die Wissenschaft „entdeckt“ nur das, was vorher simuliert war.
Unsere Wahrnehmung und Handlungen sind sehr viel mehr in Nachahmungen und Modelle verstrickt, als es einer strammen Identität lieb sein kann, das „Wahre“ wie das „Falsche“ beruhen gleichermaßen auf Behauptung - dies macht die Ausstellung an zahlreichen Punkten sichtbar. Die Imitate werden weder als „falsch“ denunziert noch wird das „Wahre“ zugunsten einer totalen Simulations-Metaphysik zur Hölle geschickt, es wird vielmehr der Blick geschärft für eine Wirkung, die nicht nur alle Krankheiten des Körpers, sondern auch solche der Wahrheitsfindung heilt: der Placebo-Effekt. Placebos funktionieren nur, wenn sie nicht als solche erkannt sind - der Erkenntnisgewinn aus dieser Ausstellung und den Essays des Katalogs: es gilt bei der medialen Medikamentenausgabe noch besser aufzupassen.
Bis zum 15.April im Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen. Der Katalog (305 Seiten, an der Kasse 30 DM) ist im Verlag Stroemfeld/Roter Stern erschienen.
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