: DDR - Kopie als Original
■ „Fußnote der Geschichte“ / Aus dem Dresdner Stollen (5. Folge)
In einer kleinen, provisorisch eingerichteten Altbauwohnung in der verfallenen sogenannten Dresdner Neustadt wurde gestern eine Kulturzeitschrift gegründet. InitiatorInnen und SchreiberInnen verfolgen die Ereignisse oder deren Ausbleiben mit derselben sardonischen Erstarrung, mit der auch in Westdeutschland bisher heitere StörerInnen der öffentlichen Übereinkünfte fassungslos beiseite stehen.
Während die Politik der alten Männer die Nachkriegszeit endgültig zu beenden sich anschickt, ist die Generation der Dreißigjährigen in der DDR um die eigene Vergangenheit gebracht, mit der jetzt gründlich aufgeräumt wird. Auf die „Fußnote der Geschichte“, den Irrtum des Weltgeistes, ist schon ein Nachruf geschrieben: „Die Kunstwissenschaft wird sich wie immer zu spät besinnen, aus einigen zufällig übriggebliebenen Dokumenten das Original zu rekonstruieren, dieses ungewußt veranstaltete Happening einiger Millionen Volksdeutscher...“
Worauf beruht die Fassungslosigkeit, hier wie da? Vielleicht darauf, daß die jüngste Rapidität der Vergangenheit einverleibt wird. Diejenigen, die diese Veränderungen hauptsächlich bewirkt haben, um das künstliche, leblose Gebilde DDR zu einer bewohnbaren Eigenständigkeit zu bringen, stellen nun fest, daß ihre Initiative in den erfolgversprechenden Versuch der Vätergeneration umgeleitet wird, die wirkungsvollsten Konsequenzen des Zweiten Weltkrieges zu beseitigen.
Es hätte ein Akt der Demut sein können, auf die „Vereinigung“ zu verzichten, eine Verneigung vor den Opfern und das Eingeständnis einer nicht abtragbaren Schuld. Doch diese Geste wurde, mit wenigen Ausnahmen, nur von den Kindern der Täter ernsthaft erwogen. Unsere Erbschaft hieß Nachkriegszeit und die DDR hat ihre Erbschaftssteuer bezahlt. Eine Neuordnung europäischer Politik beruht neben friedlichen Hoffnungen auch auf dem falschen Bewußtsein, die Schulden Deutschlands seien beglichen, die Nachkriegszeit zu beenden. So verabschieden sich die Dreißigjährigen von ihrer nun zu tilgenden Vergangenheit, entlarvt als unbedeutende Fehlleistung: „Die DDR war nichts anderes als die stümperhafte Kopie ihres erklärten Gegenteils. Die eigentliche Identitätskarte des DDR-Bürgers hieß Ausreiseantrag.“ „Wenn das Herz denken könnte“, schrieb Pessoa, „würde es still stehen.“
Elke Schmitter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen