: Bonn macht Notaufnahmelager dicht
Ab 1. Juli wird Aufnahmeverfahren abgeschafft / Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion noch vor dem Sommer angepeilt Auch Sonderleistungen für Übersiedler sollen gestrichen werden / Begrüßungsgeld und zinsgünstiges Einrichtungsdarlehen entfallen ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan
Ab 1. Juli soll es kein Notaufnahmeverfahren für Übersiedler mehr geben. Dies teilte am Dienstag Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gestern in Bonn mit. Nach seinen Worten hatte ihn das Bundeskabinett am Morgen beauftragt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Aufhebung des Notaufnahmegesetzes von 1950 regelt. Im sogenannten parlamentarischen Eilverfahren soll der Entwurf bis zum 1. Juli als Gesetz verabschiedet werden. Mit der Notaufnahme würden auch einige finanzielle Sonderleistungen an Übersiedler entfallen. Offenkundig steht die Aufhebung des Aufnahmeverfahrens in Zusammenhang mit der für den Sommer angepeilten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Ein Grundsatzbeschluß zur Einführung der Währungsunion beider deutschen Staaten soll nämlich nach Informationen von 'dpa‘ bis Ende April und damit vor der DDR-Kommunalwahl am 6. Mai gefällt werden. Wie es hieß, sollen in das Verfahren Sicherungen eingebaut werden, um Spekulationsgewinne abzuwehren.
Innenminister Schäuble begründete die bis gestern von ihm und der FDP strikt abgelehnte Abschaffung des Notaufnahmeverfahrens so: Nach den Volkskammerwahlen sei man nun „einen Schritt weiter“ als in der vergangenen Woche. Diese würden die notwendige Stabilisierung der Lage bringen, derzufolge nicht mehr so viele Übersiedler hierherkommen würden. Daß am ersten Tag nach den Wahlen schon 25 Prozent weniger in die Bundesrepublik übergesiedelt seien als an vergleichbaren Tagen bisher, wertete Schäuble als Beleg hierfür. Überdies, so der Minister, gehe die Bundesregierung davon aus, daß „bis zum Sommer“ die Wirtschafts-, Währungs und Sozialunion verwirklicht sei, „und darein muß man die Überlegungen zum Notaufnahmeverfahren einbinden.“
Noch am vergangenen Freitag hatte Schäuble behauptet, das Notaufnahmeverfahren werde vorerst beibehalten - und dies, obwohl auch die unionsregierten Länder im Bundesrat auf die Linie der SPD eingeschwenkt waren: Die Sozialdemokraten fordern schon seit längerem, das Notaufnahmegesetz aufzuheben.
Womit die Bundesregierung ihre starre Haltung bisher begründete, schien gestern nicht mehr zu gelten: Solange so viele Übersiedler hierherkämen, müßten sie auf der Grundlage des Notaufnahmegesetzes auf die Bundesländer verteilt und ihnen auch ein Eingliederungsgeld gewährt werden, hieß es noch vor einer Woche. Die Abschaffung der Notaufnahme anzukündigen, würde den Übersiedlerstrom anschwellen lassen, war gerade vom Innenministerium immer wieder in die Diskussion geworfen worden - gestern setzte man lediglich dagegen, daß der Übersiedlerstrom am Montag schon etwas nachgelassen habe.
Mit der Notaufnahme fallen auch einige andere Sonderleistungen an Fortsetzung auf Seite 2
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Übersiedler weg: 200 DM „Begrüßungsgeld“ etwa und 4.000 DM zinsgünstiges Einrichtungsdarlehen. Entgegen der Darstellung der Bundesregierung, arbeitete man offenkundig schon seit längerem an der Aufhebung des Notaufnahmegesetzes. Obwohl etwa Minister Schäuble seit Monaten für die Beibehaltung des Verfahrens plädierte, konnte er dennoch gestern im Kabinett eine entsprechende Vorlage einbringen.
Das Saarland hat am Dienstag die Notaufnahme von Übersiedlern abgeschafft. Sozialministerin Christiane Krajewski begründete damit, daß sich nach der DDR-Wahl die Verhältnisse dort so verändert hätten, daß die „Geschäftsgrundlage“ für das Notaufnahmegesetz entfallen sei. Ein Staatssekretär aus dem saarländischen Justizministerium fügte hinzu, das Notaufnahmegesetz aus dem Jahre 1950 spreche nur von „Flüchtlingen und Vertriebe
nen“. Flüchtling sei aber „nur, wer flieht, und nicht, wer umzieht“.
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