: Die bekannte Unbekannte
■ „Gertrude Stein. Ein Leben in Bildern und Texten“
Zum Inventar der Legende Paris 1926 gehört die Figur Getrude Stein, selbst eine Legende. Ein im Arche Verlag erschienener Bild- und Textband feiert sie liebevoll und klug. Die Herausgeberin Renate Stendhal hat mehrere hundert, zum Teil hier erstmals veröffentlichte Photographien aufgespürt und mit kurzen Passagen der autobiographischen Texte Gertrude Steins, mit Interviewauszügen und Zeugnissen ihrer Umgebung montiert. Dieser Blick auf Gertrude Stein, der sich stärker für ihr unabhängig und selbstbewußt geführtes Leben, für die legendäre Gestalt als für ihr Werk interessiert, ist nicht überraschend. Er ist bis heute tpyisch für die Stein -Rezeption. Sie selbst hat sich über diese Haltung ihr und ihren Werken gegenüber geärgert.
„Es ärgerte mich immer, daß das amerikanische Publikum mehr an mir interessiert war als an meinem Werk“, schreibt sie in Everybody's Autobiography. Bekannt ist die exotische Gestalt, die merkwürdig gekleidete Amerikanerin in Paris, die mit einer Frau zusammenlebt, befreundet mit Picasso und Hemingway, das Über-Ich der „Lost generation“. Ihre Texte werden weniger gelesen als angestaunt. Bezeichnend für diesen vor allem an der vermeintlich exzentrischen Person interessierten Blick ist, daß ihr Buch The Autobiography of Alice B. Toklas, in dem sie in einem witzigen, eher gemäßigten Stil von ihren Pariser Jahren schreibt, ihr einziger kommerzieller Erfolg wurde, während man ihr literarisches Hauptwerk The Making of Americans konsequent ignoriert hat. Eine deutsche Übersetzung dieses literarischen Monstrums erschien erst im vergangenen Jahr, 81 Jahre nach seiner Entstehung (The Making of Americans, deutsch von L. Faschinger und Th. Priebsch, Ritter Verlag, Klagenfurt 1989). Das Publikum wollte die Anekdoten aus der Boheme, nicht die Revolution der Sprache. Allerdings sahen einige andere Autoren die Türen, die Gertrude Steins Schreiben der Prosa aufgestoßen hat. Gelernt haben von ihren Texten unter anderen Hemingway und Samuel Beckett, Thomas Bernhard, Wolfgang Koeppen und Helmut Heißenbüttel. Beckett sieht 1937, zu einem Zeitpunkt also, als er selbst ein völlig unbekannter Außenseiter ist, eine Nähe zwischen ihrer Schreibweise und seiner Arbeit. Ihm gefällt, daß in ihrer Prosa „das Sprachgewebe (...) wenigstens porös geworden“ sei. Gleichzeitig bedauert er, daß „die unglückliche Dame (...) ohne Zweifel immer noch in ihr Vehikel verliebt (ist), wenn freilich nur wie ein Mathematiker in seine Ziffern, für den die Lösung des Problems von ganz sekundärem Interesse ist, ja ihm als der Tod der Ziffern direkt schrecklich vorkommen muß“. Dieser Stoßseufzer trifft Gertrude Steins Schreibweise, ihren musikalischen Umgang mit dem Sprachmaterial, genau. Becketts wacher Blick ist die Ausnahme. Typischer, zumindest für die zeitgenössische Rezeption, ist die Reaktion eines Rezensenten, der 1914 schreibt: „Nach hundert Zeilen von diesem Zeug möchte ich schreien, ich möchte das Buch verbrennen, ich verfalle in Agonie. (...) Mir ist, als habe mir jemand einen Mixquirl ins Gehirn gesteckt.“
Renate Stendhal betreibt keine Textanalyse, unternimmt keinen Versuch, Steins Leben zu deuten oder über ihre zentralen Schreib- und Lebensantriebe zu meditieren. Daß der Band trotzdem anregend zu lesen (und vor allem: zu betrachten) ist, daß er entschieden mehr bietet als ein Wiederkäuen der bekannten Bestandteile der Legende und die Dichterin nicht in einem monumentalen Denkmal einsargt, liegt neben dem Materialreichtum, der findigen, klugen, gelegentlich witzigen Montage vor allem an dem liebevoll -aufmerksamen Blick der Herausgeberin. Ihr gelingt es, ein vielschichtiges, aus verschiedensten Materialien zusammengesetztes Porträt zu montieren. Sichtbar wird eine Frau, die sämtliche Zwangsjacken der Konvention souverän ignoriert, eine freundliche, nicht zu irritierende und ihrer Sache vollkommen sichere Künstlerin. Den Fotografien ist Gertrude Steins Lust an der eigenen Person, auch die Lust an der Selbstinszenierung anzumerken: eine ungebrochene Frau, die weiß, daß sie ein Genie ist und nicht zögert, das auch laut und deutlich zu sagen. Allein die Selbstverständlichkeit, mit der sie dies tut, ohne sich um den Segen der männlichen Autoritäten des Literaturbetriebs zu kümmern, dürfte viele Männer ihrer Zeit irritiert haben. Wenn man dieses Gesicht, die vielen Gesichter ihres Lebens betrachtet, sieht man die Entschlossenheit und vollkommene Ernsthaftigkeit, mit der sie ihr wucherndes Werk geschrieben hat: Die Bewohnerin ungeheurer Satzlabyrinthe, die mit „beharrlicher Besessenheit für das Wort“ (Cesare Pavese) riesige Textmaschinen aus sich endlos wiederholenden und variierenden, einander spiegelnden und umkreisenden Bausteinen konstruiert hat. Zu den schönen Fundstücken der Herausgeberin gehören neben unbekannten Photographien abgelegene, zum Teil hier erstmals auf deutsch publizierte Texte.
Der Großteil der Texte allerdings liefert vor allem einen Kommentar und die Begleitung der Photographien. Zitiert wird hauptsächlich aus den autobiographischen, den zugänglicheren Texten. Durch die kurzen, auseinandergeschnittenen Textpassagen bleibt dem Leser das hellwache Delirium, das sich bei der (lauten) Lektüre längerer Stein-Texte fast zwangsläufig einstellt, leider unzugänglich. Dafür entschädigt eine Montage, die bekannte Textpassagen neu lesbar macht, etwa wenn die erste Begegnung mit der späteren Geliebten Alice B. Toklas von einem Text aus Ada begleitet wird, eine prägnante, vollkommen klare und umwerfende Liebeserklärung:
„Sie kam dazu glücklicher zu sein als sonst irgend jemand der dann lebte. Es ist einfach diese Sache zu glauben. Sie erzählte jemandem der liebte jede Geschichte die bezaubernd war. Jemand der lebte war fast immer am lauschen. Jemand der liebte war fast immer am lauschen. Jene die liebte war fast immer am lauschen. Jene die liebte erzählte dann eine zu sein die lauschte. Jene die eine Liebende war erzählte dann Geschichten die einen Anfang hatten eine Mitte und ein Ende. Jene war dann eine die immer völlig lauschte. Ada war dann eine und ihr ganzes Leben war dann eines völlig Geschichten zu erzählen die bezaubernd waren, völlig Geschichten zu lauschen die einen Anfang hatten und eine Mitte und ein Ende. Beben war ganz Leben, Leben war ganz Lieben, jemand war dann die andere. Sicherlich liebte diese eine diese Ada dann. Und sicherlich war Ada in ihrem ganzen Leben glücklicher im Leben als sonst irgend jemand der jemals leben konnte, lebte, lebt und jemals leben wird.“
Peter Laudenbach
Renate Stendhal (Hrsg.): Gertrude Stein. Ein Leben in Texten und Bildern. 288 Seiten, 360 Abbildungen, Großformat, gebunden; Arche Verlag, Zürich, 98DM
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