Polnische Westgrenze immer noch Spielball

Die Bundesregierung wirbt um Vertrauen und beteuert ihren Willen zur europäischen Einheit / Margaret Thatcher will sich mit starkem Deutschland abfinden / Die Schlesier wollen im Diesseits ihr „Himmelreich“ und Albrecht widersteht ihnen nicht  ■  Von Anna Jonas

Berlin (taz) - Die Bundesregierung war am Wochenende darum bemüht, Bedenken der europäischen Nachbarn entgegenzutreten, sie wolle mit der deutschen Einheit einen Sonderweg einschlagen und die Einheit Europas vernachlässigen. Bundeskanzler Kohl sagte am Samstag in Wuppertal, die Bundesrepublik werde auch in Zukunft Motor des europäischen Einigungsprozesses sein. Kohl hatte auf eine besondere Partnerschaft mit dem französischen Nachbarn hingewiesen. Dies mag auch als Antwort darauf gewertet werden, daß der Direktor des Pariser Instituts für deutsche Gegenwartsstudien, Lassere, dem Bundeskanzler „diplomatische Leichtfertigkeit“ vorgeworfen hatte. Lasserre sagte, es habe keine Abstimmung mit Paris über den Zehn-Punkte-Plan gegeben und Kohls Handhabung der polnischen Grenzfrage habe in Frankreich große Ängste heraufbeschworen.

Vom EG-Sondergipfel im April in Dublin erwartet Kohl, wie er zuvor in Mainz sagte, eine „Botschaft der Solidarität“ für den deutschen Einigung. Zugleich hatte der Kanzler eine Beschleunigung des europäischen Einigungsprozesses gefordert und gewünscht, „daß wir das Tempo aufmachen bei der politischen Einigung“. Sobald die Einheit hergestellt sei, würde die aus Sicht der Deutschen „bittere Stunde“ schlagen, in der ein klares Wort zur Oder-Neiße-Grenze fällig werde.

Die britische Premierministerin Thatcher hatte zur Frage der deutschen Einheit dem 'Spiegel‘ gesagt: „Wir müssen uns eben an die Vorstellung gewöhnen, daß es in Europa künftig ein Land geben wird, das stärker ist als alle anderen.“ Die EG-Länder sollten jedoch „nicht immer nur daran denken, wie wir ein Gegengewicht zu Deutschland schaffen können“. Eine solche Haltung würde dem Gemeinschaftsgeist widersprechen.

Außenminister Genscher hat am Wochenende bekräftigt, er sehe in der Abrüstung „die Kernfrage der Vereinigung Europas und auch der Vereinigung Deutschlands“. Zur Bündnisfrage erklärte Genscher, die Sorge der Sowjetunion bezüglich einer Kräfteverschiebung durch die deutsche Vereinigung könne durch durchgreifende Abrüstungsschritte genommen werden.

Ganz andere Töne waren am Freitag abend auf einer Kundgebung der Schlesischen Landsmannschaft in Niedersachsen zu hören, die unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Albrecht stand. Dort hatte Herbert Hupka gesagt, hinter der polnischen Westgrenze, die jetzt zur deutschen Ostgrenze erklärt werden soll, lägen 104.000 Quadratkilometer Deutschland. Auf dieses Gebiet gäbe es „keinen historischen, ethnischen oder rechtlichen Anspruch Polens“. Eine Anerkennung der polnischen Westgrenze bezeichnete der Vorsitzende der Landsmannschaft als „Grenzdiktat“.

Ohne sich von den Äußerungen Hupkas zu distanzieren, sicherte Ministerpräsident Albrecht anschließend der Landsmannschaft zu, sie auch in Zukunft nach Kräften zu unterstützen. Der Spitzenkandidat der niedersächsischen SPD, Schröder, kritisierte Albrechts Auftritt vor den Schlesiern als „Paradebeispiel für gefährlichen Opportunismus“. Mit Blick auf den Einsatz von Albrechts Wahlhelferin, Bundestagspräsidentin Süssmuth, für die Grenzanerkennung sagte er: „Albrecht wird bei dem Spagat zwischen Herbert Hupka und Rita Süssmuth heftig auf die Nase fallen.“