: Deutschland als Knüppelwort
■ Auszüge aus dem Tagebuch, das der Dresdner Autor Thomas Rosenlöcher während der letzten Monate führte
Thomas Rosenlöcher 6.12
Vorgestern abend. Der Theaterplatz füllte sich noch, als drüben auf der anderen Brücke im Gegenzug längst schon wieder Lichter herüberschimmerten und gewiß die ersten Demonstranten vor den Mikrofonen ankamen. Über uns das Donnern der Hofkirchenglocken. Nicht allzuviele Deutschlandfahnen, denke ich, aber dann sehe ich immer mehr, und Plakate über Plakate, noch nie hat es so viele Plakate gegeben. Die täglichen Unglücksbotschaften haben sich verdichtet zu einem grenzenlos jubelnden Haß. Der wird für die nächsten Wochen reichen. Auch mich läßt nun der Zeitgeist spüren, daß diese Land längst ist, was ich mit jedem Jahr deutlicher kommen sah und zuletzt doch noch für verhinderbar hielt: Konkursmasse. Das doch friedlich gemeinte Hofkirchen-Glockengedröhn ist zum Sturmläuten geworden. „Nun stinkt's zum Himmel!“ steht auf dem Plakat eines Bekannten, der grinsend an mir vorübertreibt. Allenthalben Honeckerbilder: Honecker, hinter Gittern; Honecker im Sträflingsanzug; Honecker mit säuberlich aufgemalter Gefängnismütze - aber so richtig lachen kann ich nicht, denn schließlich war er schon im Gefängnis gewesen, als unsere Eltern noch den Hitlergruß übten. Am Straßenrand steht ein Mann mit Stock und dunkler Brille und hält der Menge ein winziges Plakat mit der Aufschrift „SED“ entgegen: der Blinde mit dem Krückstock. An den Lichtmasten Steckbriefe: „Gesucht Egon Krenz - genannt Don Promillo. Wegen Widerstands gegen die Volksgewalt. Belohnung: 0,0000 Dollar.“
Hartnäckig hält sich oben am Portal der Hofkirche das Häuflein der Vereinigungsgegner, ehe es in den Fahnenzug einschwenkt und stumm hinter den „Deutschland-einig -Vaterland„-Rufen hertrottet.
Auf dem Platz schärfste Reden. Christa Wolf und Stefan Heym, jahrelang hochgeachtet, werden nun, als Urheber eines Vereinnahmungswarnrufs, mit deutlichem Haß genannt. Ein Soldat hat kurzerhand seinen Dienst im Wachregiment aufgekündigt und fordert einen „Nürnberger Prozeß in Leipzig“ samt Wiedereinführung der Todesstrafe. Das gibt den größten Beifall des ganzen Abends. Sobald von Deutschland die Rede ist, gehen die Fahnen hoch.
Weniger das, sondern wie sie Deutschland rufen.
Deutschland als Knüppelwort.
Mir ist kalt. Ich gehe.
Schreibe, noch in der Nacht, für das hiesige Forumblättchen einen kleinen Artikel: Die verkauften Pflastersteine
Dieses Jahr ist am Rande von Dresden die Pirnaer Landstraße verkauft worden. Ein Straßenarbeiter, der einzige, den ich kenne, und gewiß so ziemlich der letzte Erdarbeiter, der hier noch vorrätig ist, versicherte mir, daß die von drüben die Pflastersteine mit ihrer Technik ohne weiteres abtransportiert hätten. Obwohl die Pirnaer Landstraße zu Teilen nun im Hunsrück oder im Taunus, in Freiburg oder in Bremen liegt, heißt sie hier, Asphalt drüber und damit fertig, noch immer Pirnaer Landstraße. Ach wäre ich ein Pflasterstein
ich könnte längst im Westen sein
dichtete Volksmund hierzu. So eine Anziehungskraft hat der Westen. Selbst die Pflastersteine sehen, daß sie fortkommen. Und den Pflastersteinen folgen die vielen Füße. Von den vielen aber, die vor kurzem noch „Wir bleiben hier!“ riefen, wollen unterdessen etliche auch nach drüben, nun aber möglichst gleich mitsamt dem gesamten Land. Natürlich, sie sind das Volk, und es wird wohl abgestimmt werden müssen, und falls sie, wie unterdessen schon zu vermuten, eine Mehrheit hätten, wäre die Mehrheit nicht nur zu akzeptieren, sondern Gesetz.
Doch wenn schon ein einziges Deutschland, dann bitte doch ein solches, das auch anderen Nationen nützt, etwa ein neutrales, eines, das keine Kriege mehr zu führen vermag und höchstens noch seinen Aufsichtsräten das Fürchten lehrt.
Vielleicht sogar eines, das anderswo ein paar Leute weniger verhungern ließe.
Derzeit aber hieße Vereinigung neue Fremdbestimmung, erneuten Ausverkauf.
Nach Hammer und Sichel im Nacken möchte ich nicht unbedingt einen Mercedes-Stern auf der Stirn tragen. Noch träume ich davon, daß die Pflastersteine eines Tages wieder fast von selbst auf die Pirnaer Landstraße zurückkehren könnten: von Deutschland nach Deutschland. * * *
Das Pamphlet ist mißlungen. Es verlangt zuviel von der gegenwärtigen Landes- und Weltgeschichte. Zwecklos, den Fremdbestimmten mit Fremdbestimmung, den Ausverkauften mit Ausverkauf zu drohen. Keine Experimente, stand auf den Plakaten.
Daß das Volk aber auch andauernd „Wir sind das Volk“ rufen mußte. Ich dachte schon, sie meinten, daß sie nun auch etwas zu sagen haben wollten: Die Revolution als Einlösung der Utopie zerstört die Utopie gleich mit. „Die Erde aufgeteilt gerecht - wir hätten's gern gesehn“, sagen die Hirten im Gedicht.
Nun ja, dann eben marktgerecht. 7.12
Das weiße Haus der Staatssicherheit ist gestürmt worden. Ziemlich rasch soll sich das Eisentor der aufgebrachten Menge geöffnet haben. Unten im Keller Bündel mit vorgedruckten Formularen samt Banderole: „5000,- M für Hinweise zur Aufdeckung staatsfeindlicher Aktivitäten.“ Nur noch die Unterschrift hätte gefehlt. Gemeinsam mit der Polizei kontrolliere man nun das Gelände und jede diensthabende Aktentasche: Die Bewachten bewachen die Bewacher. Trotzdem kann ich mich nicht recht freuen. Diese neuere Methode, auf die alte Art Deutschland zu rufen, steckt mir noch immer in den Knochen. Außerdem muß ich an meiner Endlosgeschichte „Vom Mann, der immer einsam ist“ weiterarbeiten. Freilich hätte es auch mir gutgetan, mit dem Ruf: „Ich will meine Akte sehn“, durch die Korridore der Macht zu hüpfen. Allerdings sollen die Panzerschränke meist schon leer gewesen sein. Der Sicherheitsdienst wäre nicht der Sicherheitsdienst, wenn er sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätte. 10.12
In der Sauna kocht es. Trotz des mahnenden Schildes: „Schwitze und schweige“, erhebt sich, als wäre der Geist in die Männer gefahren, über ihren Köpfen eine Wolke aus Drohungen und Flüchen. „Denkste, die gehn? Die sehn einfach nich ein, daß se uns viertzsch Jahr zur Sau gemacht ham.“ Ich, nackt, zwischen den nackten Sachsenwerkern, bin der einzige, der wirklich schweigend schwitzt. Anstatt mich den Fragen der Menschheit zuzuwenden und den Männern ihre Interessen jenseits von Neckermann zu erklären, beeile ich mich zu nicken, damit sie mich nicht etwa für einen von denen halten, die sie vierzig Jahre lang zur Sau gemacht haben.
„Bis nach Barcelona für 185 Westmark!“
„Was soll denn der Vauweh dann hier bei uns kosten?“
„Bei uns? Junge! Bei uns gibt's dann doch nicht mehr.“
In Berlin, erzählt Patricia, hat es am Übergang Invalidenstraße Verpflegungsbeutel mit Bananen gegeben. Als die Bananen alle waren, stellten sich meine Landsleute nach den leeren Plastbeuteln an. Aber in Lübeck, so höre ich, sollen sie, als man ihnen Bananen zuwarf, gerufen haben: „Wir sind doch keine Affen.“
Das bißchen DDR-Selbstwertgefühl: bankrott gegangen mit den Bankrotteuren und aufgesogen vom Glanz der Kaufhäuser.
Der schrille Ton der Zeitungen. Auch oft nur der Versuch, von eigener Mitschuld abzulenken.
Jemanden habe ich sagen hören: „Ich darf jetzt nur so laut sein, wie ich vorher versucht habe, laut zu werden.“
Dieser Satz ist so leise gesagt worden, daß ich vergessen habe, wer ihn gesagt hat. 11.12
Friedemann meint, die neugewonnene Freiheit wiege in keiner Weise die täglichen Katastrophenerfahrung auf. Je größer die Katastrophe, desto größer sei schließlich das eigene Versagen gewesen.
Jetzt bewege ich mich nur noch an den Rändern der Montagsdemonstrationen entlang. Trete immerhin auf einen jungen Mann zu, der ein paar Demonstranten besonders laut „rote Schweine“ schimpft. „Das sind doch keine Schweine“, sage ich und rechne fest damit, eins auf die Nase zu bekommen. Aber sofort tritt unter der Maske des Bösen der gute Junge hervor: Ach, er sage doch nur seine Meinung. 11.12
Den Hauptschock mag es für unsere Leute gegeben haben, als sie mit ihrem Trabant über die Grenze fuhren. Ausgerechnet über ihr Auto, ihr sonntags doch auch geputztes Auto, auf das sie jahrelang gespart und oft noch länger gewartet hatten, lachte ganz Europa. 19.12
Allmählich bin ich es endgültig satt, zu diesen Demonstrationen zu gehen, aber was soll man machen, wenn heute der Bundeskanzler zu Besuch kommt? Vor dem Kulturpalast allenthalben Diskutanten bei vorherrschenden Frauenschimpfstimmen. Ein junger Mann wird gezwungen, sein Plakat, auf dem die Bundesrepublik als eine Art geographisches Monster die DDR fressen will, herunterzunehmen. „Was heißt offressen, wir könn froh sein, wenn die unseren Laden übernähm.“ Einzugreifen und um Toleranz zu bitten, wage ich hier nicht mehr, zur fürchterlich hacken die Nasen aufeinander ein; und auf jeden „Rote-raus„-Sprechchor antwortet ein nicht weniger zorniger, siehe Verslehre, zweihebiger „Trochäus“: „Nazis raus!“ Eine Tonart, die zum Töten bereit ist. Und oben von der Kulturpalastbalustrade hängen sie ihre besenartigen Mikrofone hinunter in den brodelnden Haß. Ich gehe. Schließlich bin ich hier nicht der Berichterstatter. Kaufe mir im Kunstsalon endlich das Kersting-Buch, darin eine Zeichnung von Kersting das Leben zeigt, wie ich es meine, und zwar in Form des von hinten gesehenen Caspar-David -Friedrich, da er, mit äußerst bescheidener, weit emporgezogener Hosenträgerhose und demütig fragendem Hosenboden soeben auf das Riesengebirge zuschreitet.
Doch wieder zurück in die Menge. Unter allgemeinem Beifall
-gerade wird ein Hammer-und-Sichel-Fahnenwäldchen in Richtung des zu erwartenden Bundeskanzlers durch ein zehn Meter langes schwarz-weiß-rotes Stoffband erfolgreich verdeckt - treffe ich auf den Dichter Czechowski und den Maler Mattheuer, die, extra aus Leipzig hier hergeeilt, sich soeben auch getroffen haben, so daß wir nun alle drei nicht mehr völlig unbeobachtet sind. Da aber vernehmen wir eine Stimme, die uns gleich bekannt vorkommt und doch überrascht durch ihre tatsächliche Anwesenheit ausgerechnet in dieser Stadt. So stehen wir einen Moment reglos: drei Männer in Betrachtung des Bundeskanzlers. Freilich ist der Bundeskanzler als solches vor lauter Menschen gar nicht zu sehn, aber seine Stimme direkt über uns: „Ich werde euch nicht im Stich lassen.“ Von weit da vorn kommt sie, wo das Scheinwerferlicht die Frauenkirchenruine mit ihren beiden Stümpfen und dem Geröllberg in ein fernes Mysterium aus weißflüssigem Silber verwandelt hat. Soeben klettert über die leuchtenden Trümmer auf allen vieren ein winziges Menschlein heran, um seinem Bundeskanzler noch näher zu sein.
Beifall, und auch der Bundeskanzler verspricht, diesen Tag nicht zu vergessen. Czecho klatscht mehrmals, ich einmal, und zwar versehentlich - Mattheuer klatscht immer. Der Bundeskanzler hat geendet und uns am Schluß noch gesagt, daß bald Weihnachten wäre. Nun wird einer von hier noch was sagen, entweder der regierende Modrow oder wenigstens der Bürgermeister Berghofer, und gründlich ausgepfiffen werden. Eine Weile warten wir, aber dann ist klar: Sie haben dem Bundeskanzler die Stadt überlassen. Von diesem Tag an hört die DDR auf zu existieren. Von Mattheuer zu schweigen, scheint es Czecho ganz recht zu sein, und auch mir tut es nur noch zur Hälfte weh. Schon spüre ich einen leichten Wohlstandsglanz im hinteren Zipfel meiner Seele. 20.12
Abends im Fernsehn sah ich dann den Bundeskanzler noch einmal wirklich.
Er beugte sich vor und legte einen Kranz für die Toten des 13.Februar auf die Trümmer, und ringsum sangen sie: „So ein Tag, so wunderschön wie heute.“
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