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Nationalitätenzwist und die Machtfrage

■ Sprengt die schwelende Nationalitätenfrage im Vielvölkerstaat das Sowjetimperium?

Die Fronten zwischen Litauen und Moskau verhärten sich. Im Baltikum gärt es und Gorbatschow schwingt die Peitsche. Der Süden gleicht einem Pulverfaß, an dem die Lunte brennt. Dabei unternehmen die Kremlherren titanische Anstrengungen, um die Nationalitätenprobleme in dem Vielvölkerstaat zu beruhigen.

Es geht um schnelle und spürbare Lösungen, da sonst das Ende des letzten babylonischen Großreiches der Gegenwart nicht mehr aufzuhalten ist. Das, was die Zaren von Iwan dem Schrecklichen bis Peter dem Großen und auch der rote Zar Stalin zusammengerafft haben, zerrinnt den heutigen Erben zwischen den Fingern. Wie gewonnen, so zerronnen, könnte man meinen, denn so endeten alle Imperien seit dem Altertum. Aber durch diese gewaltigen Umwälzungen sind millionen und abermillionen menschlicher Schicksale betroffen, oft geht es dabei ums nackte Überleben. Auch Europa ist davon direkt berührt.

Die neuen Kremlherren waren mit dem „Sieg des Roten Oktober“ fest überzeugt, diesem Los entgehen zu können. Sie träumten sogar, wie alle „großen“ Diktatoren und Herrscher, von der Weltherrschaft, die ihnen die Weltrevolution, die internationale proletarische Revolution, einbringen sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihnen kein Preis zu hoch, nichts war ihnen zu schmutzig. Sie hielten die Traditionen der Vergangenheit hoch. Schwert und Dolch sollten alles entscheiden. Was einmal erobert war, wurde für immer zur „heiligen russischen Erde“. Die Testamente Peter des Großen und Lenins waren und sind der Katechismus dieser Ideologie. Stalin war sein treuer Prophet und mehrte das durch Blut und Eisen Gewonnene. Dieses Erbe lastet schwer auf den Schultern des jetzigen Herrschers im Kreml. Und um diese Last tragen zu können, so meint Gorbatschow, braucht er die Machtfülle der Zaren in einem neuen Gewand, die Präsidentschaft.

Bei der Betrachtung der Nationalitäten muß Moskau in Rechnung stellen, daß die Russen heute erstmalig in ihrer Geschichte in der Minderheit sind. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 288 Millionen ist auf unter 50 Prozent gesunken, wobei diese Tendenz noch anhält. Außerordentlich hoch ist der Bevölkerungszuwachs in den moslemischen Republiken und Gebieten der Sowjetunion.

Die Ereignisse in den letzten Tagen in der Sowjetunion können sich als schicksalhaft erweisen. Nicht nur für das Land selbst, sondern für die sozialistische Idee insgesamt. Denn die eingeleiteten Rettungsmaßnahmen sind ein verzweifelter Versuch, den Untergang des „real existierenden Sozialismus“ zu stoppen. Die Parteioberen haben das nur mit Mühe und Not durchgesetzt, aber sie sind entschiedener und weitreichender, als die 95 Thesen, die Luther 1517 an die Tür am Dom zu Wittenberg nagelte. Die Kommunistische Partei mußte ihren Alleinherrschaftsanspruch offiziell aufgeben. Die entsprechenden Artikel 6 und 7 der Verfassung wurden geändert. Der Sündenfall des Kapitalismus - das Privateigentum - wurde gesetzlich verankert. Der Rückgriff auf das Privateigentum, für dessen Beseitigung in den vergangenen siebzig Jahren Millio

nen von Menschen physisch vernichtet wurden, spiegelt die Unmöglichkeit wider, die kommunistische Theorie in der Praxis zu verwirklichen. Die Marktwirtschaft soll noch in diesem Jahr eingeführt, die Subventionen abgebaut und die Preise freigegeben werden. Das Spiel der kapitalistischen Kräfte kann dann seinen Lauf nehmen.

Zugleich tritt mit der Einführung des Präsidialregimes Gorbatschow selbst den Beweis an, daß der real existierende Sozialismus ohne Diktatur nicht lebensfähig ist. Aber einen Präsidenten hatte es in der vielhundertjährigen Geschichte Rußlands noch nie gegeben. So feiert die „Diktatur des Proletariats“ in der Endphase des Sowjetimperiums seine Wiederauferstehung. Und um sein angeschlagenes inneres Ansehen aufzupolieren, hat sich der russische Präsident mit einer Machtfülle ausgestattet, von der selbst Stalin nur träumen konnte.

Ohne Zweifel ist die Unabhängigkeitserklärung Litauens in diesem Spiel der Kräfte der radikalste äußere Einschnitt. Der Zerfall des Sowjetimperiums tritt so in eine Endphase ein. Und es sieht nicht so aus, als ob das eine lange Agonie sein wird. Die anderen beiden baltischen Republiken werden bald folgen. Man braucht auch kein Prophet zu sein, um im Süden des Riesenreiches weitere Sezessionen vorauszusagen. Aserbaidshan ist hier Vorreiter. In weiteren Republiken im Kaukasus, in Moldawien und in den moslemischen mittelasiatischen Republiken wurde der Aufstand bereits geprobt. Mit Toten und Verletzten. Der Vielvölkerstaat bricht auseinander. Bitter rächen sich nun die Sünden der Oktoberrevolution. Die Nationalitätenfrage erweist sich als die Brechstange, mit der das Sowjetimperium aus den Angeln gehoben wird.

Die nationale Frage spielte seit dem „Sieg der proletarischen Revolution“ 1917 in allen innenpolitischen Entscheidungen stets eine wichtige Rolle. Bereits Lenin hatte die enormen Triebkräfte, die sich aus dem Befreiungswillen der kolonialen Völker Rußlands ergaben, für seine Ziele klug zu nutzen gewußt. Er versprach ihnen die nationale Befreiung. Im November 1917 verabschiedete er die „Deklaration der Rechte der Völker Rußlands“, in der nicht nur die Gleichberechtigung aller Nationalitäten versprochen, sondern das Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich anerkannt wurde. Die Polen, Finnen, Ukrainer, die baltischen Völker, die Georgier, Armenier und Aserbaidshaner nutzten die Gunst der Stunde und erklärten ihre Unabhängigkeit. Während Polen und Finnland auf Dauer eigene Staatswesen errichten konnten, wurden die anderen Länder kurze Zeit darauf mit militärischer Gewalt wieder unter die Herrschaft Moskaus gezwungen. Der damalige Volkskommissar für die Nationalitätenfrage hieß Stalin! Auch die mittelasiatischen Völker, die unter der Zarenherrschaft teilweise eine autonome

Struktur behalten konnten, sind mit brutaler Gewalt erneut „befreit“ und in die Sowjetunion eingegliedert worden. Für die baltischen Länder kam das Ende 1940, als unmittelbares Ergebnis des Hitler-Stalin-Paktes.

Stalin hatte es verstanden, alle Nationalitätenprobleme auf seine Weise zu lösen - mit der Ermordung von millionen Frauen, Männern, Greisen und selbst Kindern. Nach sowjetischen Berechnungen sind unter seinem Terrorregime über vierzig Millionen Menschen umgebracht worden. Er ließ nicht nur große Gebiete befrieden, sondern hat ganze Völker

-Krimtataren, Mecheten und Wolgadeutsche zwangsumgesiedelt. Und das mit Methoden, die selbst einem Dschingis Khan alle Ehre gemacht hätten. Die eingetretene Friedhofsruhe in dem Vielvölkerstaat wurde zugleich als die „Endlösung der Nationalitätenfrage“ gepriesen. Sie diente als Vorbild für alle „Volksrepubliken“, vom Chinesischen Meer bis zur Elbe.

Die Nachfolger Stalins - Chrustschow, Breschnew, Andropow und Tschernenko - sind in der Nationalitätenfrage ihren Urvätern treu geblieben. Auch Gorbatschow war bisher nicht gewillt, andere Wege einzuschlagen. In der Nationalitätenfrage ist er offensichtlich der Großrusse, wie er selbst in den eigenen Reihen charakterisiert wird.

Seit der Zarenherrschaft war die Russifizierung der kolonial einverleibten Völker der Schlüssel, um die eroberten Gebiete fest an Rußland zu binden. Dieses Rezept haben die Parteioberen bis zur jüngsten Vergangenheit mit immer raffinierteren Mitteln und Methoden praktiziert. Alle Ressourcen des totalitären Staates sind dafür eingesetzt worden. Neben der Eroberung weiterer Enflußsphären im internationalen Maßstab galt der Befriedung der inneren Front, der „Sprachfront“, der Hauptschlag. Nach 1917 wurde als erstes die Intelligenz der nichtrussischen Völkerschaften eliminiert. In der Regel die wenigen Akademiker, die nicht ins Ausland fliehen konnten. Die zweite große Vernichtungsaktion führte Stalin in den Jahren 1933 bis 1937 durch. Neben den Resten der alten zaristischen Intelligenz wurde auch die erste Generation der neuen proletarischen Intelligenz in den Gulags verheizt. Zusammen mit der Bauernschaft, die damals endgültig vernichtet wurde, errichteten die „Gebildeten“ als neue Sklaven des 20. Jahrhunderts die „Großbauten des Kommunismus“: Magnitogorsk, den Weißmeerkanal, das Dnepr-Wasserkraftwerk, die Turksib -Eisenbahnstrecke und andere.

Solche primitiven Methoden werden in der Gegenwart nicht mehr praktiziert. Alles wurde verfeinert und rationeller gestaltet. Die Gulags und die Genickschußkommandos sind abgeschafft worden. Die Ergebnisse sind jedoch nicht weniger effektiv. Der neue, manipulierte Sowjetmensch sollte

wenigstens auf dem Papier die in den Parteidokumenten vorgesehenen Triumphe feiern.

Vor dreißig Jahren gab es offiziell in der Sowjetunion noch über 170 Nationalitäten und Völkerschaften. Heute werden noch etwa 100 angegeben. Genau wissen es die Kremlherrscher selbst nicht, sie haben auch kein Interesse daran, genaueres darüber zu erfahren. Es ist ihnen sogar lästig, darauf angesprochen zu werden. Das wird gerne als antisowjetische Propaganda abgetan. Aber für die restlichen Nationalitäten hatte das fatale Folgen. Sie existierten offiziell nicht mehr. Sie hatten keine Sprache, keine Kultur, keine Rechte, keine materiellen staatlichen Mittel und, was besonders in der Sowjetunion wichtig ist, keinen Ausweis mehr. Darüberhinaus wurde an den Schulen ihre Heimatsprache nicht gelehrt, literarische Werke, Zeitungen und Zeitschriften nicht gedruckt. Diese Völkerschaften waren vor die Wahl gestellt: entweder die russische Assimilation oder Untergang. Besonders betraf das die Nordvölker und viele Nationalitäten des russischen Fernen Ostens. Über einige von ihnen kann man jetzt nur noch in ethnographischen Nachschlagewerken nachlesen. Oft ist das auch 1990 noch „top secret“.

Mit einem Problem werden alle nichtrussischen Völkerschaften konfrontiert, was den Haß auf die russische Zentralgewalt und den Drang nach Unabhängigkeit, das Streben nach nationalem Überleben immer neuen Raum gibt: Das Russische ist der Maßstab aller Dinge und verdrängt alles Nationale. Die russische Sprache ist das alles entscheidende Kommunikationsmittel der Parteihirarchie. Nationalsprachen sind in der Sowjetunion nicht gefragt. Wer heute das Russische nicht beherrscht, und das sind laut letzter Statistik über achtzig Millionen Sowjetbürger, hat in der sozialistischen sowjetischen Gesellschaft keine Chance. Weder als Funktionär in der Partei oder der Administration, noch als Fachkader in der Industrie und Landwirtschaft. Hinzu kommt, daß die letzten Wörterbücher Russisch -Nationalsprache Anfang der 50er Jahre verlegt wurden. Wörterbücher von einer Nationalsprache in die andere hatte es noch nie gegeben. Dolmetscher und Übersetzer für die nichtrussischen Sprachen der Sowjetunion wurden zu keiner Zeit ausgebildet. Das Großrussische spiegelt sich auch in seiner Dominanz in Kunst und Literatur wider. Dichter und Künstler der Nationalitäten sind selbst in der Sowjetunion bis auf wenige Ausnahmen kaum bekannt. Sie sind die Feigenblätter, die dem Ausland vorgeführt werden. Die Pflege der nationalen Sitten und Gebräuche ist generell verpönt und wird von den Herrschenden als Überbleibsel der alten Gesellschaftsordnung höchstens geduldet.

In dieser Nische haben die Glaubensrichtungen der einzelnen Nationalitäten ihren größten Spielraum. Besonders in den Südrepubliken, von Armenien einmal abgesehen, hat die Renaissance des Islam die größten Auswirkungen. Der Einfluß der moslemischen Nachbarstaaten Iran, Afghanistan und Türkei ist groß. Neuerdings werden die unterdrückten sowjetischen Glaubensbrüder sogar großzügig mit Waffen versorgt.

Der Machtapparat des Kreml entspricht voll und ganz der praktizierten Nationalitätenpolitik. In den höchsten Etagen der Parteihirarchie sind die Nichtrussen seltene Gäste. Die nationalen Parteiorganisationen sind der verlängerte Arm Moskaus. Als 2. Sekretäre setzte die Zentrale in der Regel stets Russen ein, denn sie sind für die Auswahl und den Einsatz der Funktionäre zuständig. Entsprechend einer internen Richtlinie hatten sie dafür zu sorgen, daß der „Nationalitätenproporz“ eingehalten wurde und die Russen überall das Sagen haben. Auch die Moskauer Ministerien sind so aufgebaut. Die Moskauer Bürokraten vertreten stets die Interessen des Kreml und torpedieren jegliche politische und wirtschaftliche Selbständigkeit der Unionsrepubliken. Sie hätten sonst keine entscheidenden Mittel mehr, um die Nationalitäten des Landes botmäßig zu halten. Folge dieser Politik ist Monokultur, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und technologische Rückständigkeit.

Die Ursachen für den Nationalitätenkonflikt in der Sowjetunion liegen tiefer, als daß sie der Kreml mit einfachen Mitteln noch lösen könnte. Es sei denn, die Russen würden ihre Kolonien freiwillig in die Unabhängigkeit entlassen. Doch welcher Kremlherr kann schon so etwas machen, ohne seinen Sturz vorher einzuplanen? Dabei sind die unterdrückten Völkerschaften der Sowjetunion immer weniger gewillt, den Russen Untertan zu sein. Sie wollen ihr eigenes Leben, ihre nationale Wiedergeburt und ihre Selbstverwirklichung. Keine Drohung Moskaus wird sie von diesem Weg abbringen können, wenn auch politische, ökonomische und militärische Rückschläge nicht auszuschließen sind.

Gorbatschow dagegen will in die Geschichte nicht als der Kremlherr eingehen, der mit seiner Politik zuerst die osteuropäischen Dominos verspielt und dann das Sowjetimperium zur Auflösung gebracht hat.

Litauen ist jetzt der Knoten, an dem alle anderen Sowjetrepubliken hängen. Wird er gelöst, tritt unweigerlich ein Dominoeffekt ein. Gorbatschow wird sich deshalb darauf konzentrieren, Zeit zu gewinnen, die Verhandlungen mit Litauen hinauszuzögern bzw. solche Lösungen anzustreben, die eine Nachahmung abschrecken. Der neue Unionsvertrag, der jetzt ausgehandelt wird, soll dabei eine wichtige Klammer sein. Ob ihm das gelingt, wird sich bereits in den nächsten Tagen zeigen. Der Kremlherr muß jetzt den Sturm ernten, den seine Vorgänger in der Nationalitätenfrage so beharrlich gesät haben.

Klaus Walter

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