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Die Seele tritt i in die Pedale

■ Niemand kann leugnen, daß Fahrradfahren durchaus seine psychischen Hintergründe hat. Aber welche Handlung im Leben hat ihre nicht? Dennoch ist Radeln ein Ausdruck einer ganz speziellen Haltung.

Über die (kultur)psychologischen Aspekte der neuen Radfahrbegeisterung forschte

MICHAEL DEGEN

as verspricht man sich heute, psychologisch gesehen, davon, eine bestimmte Strecke nicht per pedes, Auto oder Bus, sondern radfahrend zurückzulegen? In welche Erlebniswelt gerät man dabei oder wünscht man zu geraten?

In einer von mir durchgeführten Untersuchung wurden neben der Auswertung von Fahrradbüchern und -zeitschriften sowie Verhaltensbeobachtungen im Straßenverkehr vor allen Dingen Tiefeninterviews durchgeführt.

Den ersten Eindruck, den man aus diesen Interviews gewinnen kann, ist, daß es beim Radfahren offensichtlich um viel mehr und ganz anderes geht als um das Radfahren selbst oder darum, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Dies ist jedoch etwas, was man als Psychologe durchaus erwarten kann, etwas, das sich auch bei anderen Fortbewegungsarten zeigt. So belegen psychologische Untersuchungen, daß es ebenso beim Autofahren, Fliegen, Motorradfahren und anderem um ein sogenanntes „Mehr und anderes“ geht. Hier bietet sich die Fortbewegung als eine Art Symbol oder Ausdrucksmöglichkeit für das Seelische an. Das Seelische ist ja gekennzeichnet durch Probleme des Entwickeln-Müssens oder, einfacher gesagt, des In-Bewegung-bleiben-Müssens.

Was ist also seelisches Thema bei der Fortbewegungsart des Radfahrens? Nun, es springt zunächst ins Auge, daß die Leute einem hier Bewältigungsgeschichten erzählen, wenn man sie zum Radfahren befragt. Es werden Lebens- und Weltentwürfe ausgebreitet, die darum kreisen, mehr als üblich bewältigen zu können. Mit dem Fahrrad verheißen sich Freiheit, Selbständigkeit, Machbarkeit, Leichtigkeit, Ursprünglichkeit und ähnliches. Es wird also als eine Art kinderleichte Welt dargestellt, in der es noch (oder wieder) „überschaubar“, „einfach“ und „durchsichtig“ zugeht, die man spielerisch „völlig im Griff“ hat und in der vieles (wieder) in Gang kommt und möglich erscheint. Man nimmt angeblich Natur und Umwelt ebenso wie eigene Kraft und Geschicklichkeit bewußter wahr.

Mit dem Fahrrad könne man im Prinzip überall hin- und durchkommen. Man sei weder von Kraftstoff noch von Fahrplänen abhängig. Das Fahrrad garantiere einem umfassende Beweglichkeit und zugleich „Sicherheit und Beständigkeit“. Garanten solchermaßen gesteigerten Lebens sind paradoxerweise Begrenzungen und Einschränkungen. Gerade das Kleine und Begrenzte gilt den Radlern als grundlegende Qualität ihrer Fortbewegungsweise, die die „kinderleichten“ Entwicklungsfreiheiten erst ermöglicht. Und der psychologische Dreh beim Radfahren liegt eben darin, freiwillige und erlittene Beschränkungen immer wieder in Erweiterungen des Erlebens oder Könnens umzudeuten.

Denn die kinderleichte Welt wird ständig durch Probleme des „Durchkommens“ herausgefordert: Man muß gegen Steigungen, Wind und Wetter ankämpfen; Autos verstellen den Weg, drängen einen ab oder blasen einem Abgase ins Gesicht; Fußgänger laufen einem in die Quere; auf dem Radweg lauern Schlaglöcher und Scherben; die Radbeleuchtung fällt aus, die Kette springt ab, die Räder eiern usw.

m Beeinträchtigungen nach dem Motto „Weniger ist mehr“ in Freiheiten umzuwandeln, stehen dem Radler vier Umkehrungsformen zur Verfügung, die wie vier gleichberechtigte „Gänge“ eines 4-Gang-Getriebes ineinandergreifen.

Ein erster „Gang“, in dem man Radfahren kann, ist der des Entspannens. Hier werden die mit dem eigenen Vorankommen verbundenen Einschränkungen als gegeben hingenommen und nicht weiter beachtet. Man schaltet dabei ab. Aus dem Monotonen, Mechanischen des Pedalierens heraus kommt es zu Tagträumereien, „kleinen Fluchten aus dem Alltag“. Man gerät in eine Stimmung von Leichtigkeit und geistigem Abheben, in der auch Alltagsprobleme auf einmal einfach und leicht erscheinen, gleichsam „vorbeifließen“. „Das ist, als ob du schwebst“, erzählt ein Radfahrer, „ich komme mir da vor, als hätte die Seele Flügel bekommen.“

Im Straßenverkehr werden diese Flügel allerdings schnell wieder gestutzt, zum Beispiel weil man aufpassen muß, will man nicht unter die (Auto-)Räder gelangen. Hier kann dann das Umschalten in einen anderen Gang, etwa den des Umrechnens vom Weniger in ein Mehr, weiterführen. In ihm rechnet man sich wie Hans im Glück immer wieder vor, daß die Nachteile des eigenen Verkehrsmittels doch letztlich Vorteile bedeuten und man eigentlich den anderen Verkehrsteilnehmern überlegen ist. Gegen die größeren Möglichkeiten der Motorisierung etwa (Schnelligkeit, Bequemlichkeit, Geschütztheit, Transporterleichterungen) werden Kehrseiten angeführt: Sperrigkeit, Angewiesensein auf Spezialisten und Treibstoff, hohe Kosten und Gefahren, Bewegungsarmut und Wahrnehmungseinschränkungen, Staugefahr und Parkplatzsorgen. Demgegenüber und erst recht gegen das öde Busfahren oder Zu-Fuß-Gehen scheint das Fahrrad das idealere Verkehrsmittel zu sein.

In diesem Bewußtsein radelt man frohgemut und beschwingt weiter. Aber weil hierbei häufig Äpfel mit Birnen verglichen werden, stößt man auf Widersprüche, zumal im Verkehr rasch wieder Ärger aufkommt - wenn etwa die „bösen“ Autofahrer einem übel mitspielen.

amit bietet sich die Überleitung in einen dritten Gang an, den der Opferwendungen. Darin wird sich eine einfache Welt von Gut und Böse zurechtgelegt. Hier der gute, edle Radfahrer, der mit seinem Verzicht aufs Auto eine vorbildhafte, gute Tat zum Schutz der Umwelt (u.v.a.m.) leistet, dort die rücksichtslosen Autofahrer, die sich brutal auf Kosten Schwächerer durchsetzen. Ihrer Willkür fühlen sich die Radler schutz- und rechtlos, gleichsam „vogelfrei“ ausgeliefert, was oft ohnmächtige Wut aufkommen läßt. Im Opfergefühl kündigt sich jedoch bereits der Umschlag in Stärke und Überlegenheit an, die zumeist auch noch moralisch begründet ist: Hier setzt man sich dann gegen die Benachteiligungen durch Autofahrer und Stadtplaner vehement zur Wehr. Man legt etwa seinerseits der Verkehrsordnung gegenüber, in der man ja kaum vorgesehen zu sein scheint, eine gewisse Geringschätzung an den Tag - bis hin zu ihrer generellen Ignorierung. Oder man erlaubt sich das Ausleben von Aggressivität - vom lauten Schimpfen und Fluchen bis hin zum Umknicken von Antennen oder Verkratzungen des Lacks behindernder Autos. Die Rolle des unterdrückten Opfers macht es möglich, einmal ordentlich auszuteilen oder Vorschriften in eine (lustvolle) Beweglichkeit zu bringen, die man in anderen Zusammenhängen, zum Beispiel selbst als Auto fahrer, nicht so einfach realisieren kann.

Sofern die Radfahrer verspüren, in welchen Dreh sie hier verfallen und daß sie letztlich die gleiche Rücksichtslosigkeit an den Tag legen wie ihre Feindbilder, kommt Unbehagen und so etwas wie Katzenjammer auf. Doch es steht noch ein weiterer Gang zur Verfügung: Das Hindernisrennen. In ihm wird jede Erschwernis als Herausforderung und Prüfstein der eigenen Könnensgrenzen begrüßt oder sogar aufgesucht. Seien es Steigungen, Wetterunbilden bis hin zu Wüstendurchquerungen; seien es Autoschlangen, durch die man sich im Zickzack schlängelt. Je schlimmer, desto besser! Die Radler beweisen sich hier, beinahe übersinnliche Kräfte und Fähigkeiten zu besitzen so etwas wie einen siebten Sinn. Oft wird eine Getriebenheit zu diesen Könnensbeweisen deutlich, die auf Bewältigungsnöte in anderen Lebensbereichen verweist.

as alles muß jedoch auch vor einem kulturellen Hintergrund gesehen werden. Das Radfahren weist insgesamt Züge einer Art kulturkritischer Revolte auf. Seine aktuelle Beliebtheit läßt sich auf ein starkes Unbehagen an der Kompliziertheit heutiger Lebensverhältnisse zurückführen, die vom einzelnen als nicht mehr überschaubar und beeinflußbar empfunden wird. Das Radfahren ist demgegenüber ein bildhafter Versuch, das durch Vereinfachen und Verkleinern wieder „in die Gänge“ und in den Griff zu bekommen - statt selbst davon beherrscht zu werden. Im Radfahren wird der Versuch gemacht, sich eine körpernahe, einfach funktionierende Kleinwelt zu schaffen, in der Seelisches einen nahezu grenzenlosen Spielraum an Steigerungs- und Entwicklungsmöglichkeiten wiedergewinnen kann. Im Gegensatz dazu wird das Automobil zum Symbol eines sich in Verengung und Bedrohung verkehrenden Fortschritts. Es erscheint als mächtige „böswillige“ Gegenwelt, die sich dem Funktionieren des Kinderleichten widersetzt und seine Grenzen spüren läßt - worauf dann auch die Wutentwicklungen mancher Radler beruhen.

Doch wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Das Radfahren ist nicht nur ein Absicherungsversuch gegen ein Zuviel, etwa des Fortschritts, der in lähmende Verengung umzuschlagen droht. Das Radfahren gewinnt vielmehr psychologisch den Charakter eines Ausgleichgetriebes, das auf der einen Seite ein Zuviel an Bewegtheit reduziert, auf der anderen Seite ein Zuwenig an Entwicklung und Veränderung anhebt. Es wird ja auch häufig als ein idealer Ausgleich bezeichnet, und es funktioniert hier in der Tat wie eine Art Ausgleichsgetriebe. Denn abseits eines kulturellen Hintergrundes leiden viele interviewte Radfahrer auch an Zähigkeiten in bestimmten privaten Entwicklungen.

Es zeigen sich Zusammenhänge, daß das Radfahren besonders in jenen Lebenslagen eine starke Attraktivität besitzt, in denen ein Nichtweiterkommen oder Nichtherauskommen beherrschend wird. Da geht es zum Beispiel darum, mit Aufgaben des Studierens oder beruflichen Verfestigungen nicht weiterzukommen, oder um Erlebnisse des Festsitzens, etwa in Partnerschaftskonflikten, den eigenen vier Wänden, einem gewissen Altersabschnitt und ähnlichem. In solchen Lebenslagen kann das Radfahren zu einem unbewußten Bild für das erwünschte „Freistrampeln“ werden - in eine Welt, in der sich alles noch mit Händen und Füßen bewerkstelligen, in leicht gesteuerte Beweglichkeit bringen läßt.

Das Radfahren ist darüber hinaus nur eine von vielen Kultivierungsformen, in denen wir Erweiterungen unseres Seelenalltags durchprobieren. Vorliegende psychologische Untersuchungen zum Autofahren belegen, daß dabei überraschend ähnliche Formen von Lebenssteigerungen angestrebt werden - mitsamt der Neigung zu Regelüberschreitungen. Hier verbirgt die häufig fast schon haßerfüllte Feindschaft zwischen Rad- und Autofahrern, daß, psychologisch gesehen, ganz ähnliche Tendenzen verwirklicht werden wollen. Während das beim Autofahren aber eher über Vergrößerungen anvisiert wird, nach dem Motto „Schneller, stärker, teurer“, liegt der Dreh beim Radfahren in einer umfassenden Umkehrung. Der vordergründige Verzichtscharakter, den die Radfahrer häufig gern für sich reklamieren, verdeckt, daß es auch hier um ein Mehr an Leben und Ausleben geht: Ein Schritt zurück macht zwei nach vorne.

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrages, den der Autor 1987 auf einem Symposion der TU Berlin hielt.

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