Olga Sedakowa: Eine chinesische Reise

Olga Sedakowa

Eine chinesische Reise

(...)

Die Dächer sind an den Rändern nach oben gezogen

wie Augenbrauen in Erstaunen.

Was meinst du? Wirklich? Ich bin glücklich bis an den Grund

Von diesen Terrassen aus ist alles(meines Herzens

was dem Menschen lieb ist

auf ewig sichtbar:

die trockenen Ufer,

die silbrig-gelben Flüsse,

der hingekritzelte Brief der Büsche

ein Liebesbrief

Zwei Vorübergehende verbeugen

sich tief voreinander auf der Pontonbrücke

und eine Schwalbe bringt die Höhe ein

in einem

Teelöffel.

Herztropfen

Heilkrank.

Aber in China ist niemand krank,

denn der Himmel selbst ist ein Fachmann

in Akupunktur.

Unglücklich

ist, wer im Gespräch mit seinem Gast an Morgen denkt

Unglücklich

ist, wer etwas tut und denkt, daß er es tut,

und nicht, daß Luft und Sonnenlicht ihm die Regeln machen

wie Pinselstrich,

Schmetterling,

Biene,

wer einen Klang spielt und an das denkt,

was nachher kommt.

Noch unglücklicher

ist, wer nicht vergibt:

er weiß nicht, daß der Storch zahm aus den Büschen tritt,

und daß der goldene Ball

von selbst sich hebt

in den teueren Himmel über der teueren Erde.

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Groß

ist der Künstler

der keine Schuld kennt

als die Schuld an das Spiel seines Pinsels

der

eingeht in

das Herz der Berge

in das

Glück der Blätter

mit einem Strich

einer Zärtlichkeit

Entzücken

Verwirrung

mit einer einzigen Bewegung eingeht in die Unsterblichkeit

und mit dem

die Unsterblichkeit

spielt.

Vor dem aber, den

der Mut verlassen,

von dem das Licht abgezogen

und der, schon das zehnte Mal wohl,

an einem dunklen Ort

nach dem reinen Schlüssel sucht,

der den Wundern einst aus der Hand gefallen,

und der dennoch nicht sagt „Es sind falsche Wunder“:

vor

diesem

verneigen sich die Himmel

in Demut.