: Gedanken zur deutsch-deutschen Sturzgeburt
■ Damit das Ergebnis der Veränderungen nicht zu sozialer Armut, größenwahnsinniger Expansion und menschlicher Entmündigung führt, müssen die Frauen selbst die jetzt notwendigen Forderungen stellen. Eine neue, eine feministische Ethik ist gefordert.
Christina Thürmer-Rohr
Wir sind jetzt ZeugInnen einer Gesetzmäßigkeit, die aus der Geschichte wohlbekannt ist, nämlich des weitgehenden Verschwindens der Stimme von Frauen nicht in, sondern nach einer revolutionären Situation. Heute können wir aber nicht mehr einfach sagen, daß dieses Verschwinden nur oder erstrangig auf männliche Verdrängungsgewalt zurückzuführen sei, sondern auch auf die Sprachlosigkeit und Irritierbarkeit von Frauen selbst, auf die Bereitschaft, die „großen“ Fragen an die diversen männlichen Autoritäten abzugeben in der Hoffnung, diese werden es schon richtig machen und das Machbare in die Wege leiten.
Die Entwicklungen der letzten Monate zeigen - im Westen und im Osten -, daß Frauen sich auf fast gar nichts verlassen können. Der Geschichtsverlust scheint in jeder Epoche, mit jedem Jahrhundertereignis neu einzusetzen. Die Revolutionen im Osten sind wieder die Revolutionen der Söhne. Allzu selbstverständlich ist es, daß der Mann Geschichte macht. Der Mensch Mann kann sich offenbar sicher sein, daß Frauen nicht beabsichtigen, ihm dieses Vorrecht abspenstig zu machen. Auch der westliche Mann fühlt sich im Zuge der deutsch-deutschen Ereignisse in seinem Recht bestätigt. Er ist und bleibt - systemübergreifend - der Macher der Geschichte. Der Status quo der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern bleibt unangetastet wie in bisher jeder Revolution.
Wir haben allerdings keine Zeit, uns darüber zu beklagen. Zeitmangel kann und darf das Schweigen nicht rechtfertigen. Niemand außer den Frauen selbst kann die Forderungen stellen, die jetzt gestellt werden müssen, sofern das Ergebnis deutsch-deutscher Veränderungen nicht eine neue Qualität von sozialer Armut, größenwahnsinniger Expansion und menschlicher Entmündigung und Kümmerlichkeit sein soll.
Da ist einmal die soziale Frage: Das Recht von Frauen auf Arbeit, auf Ausbildung und Bildung, auf Umschulung und berufliche Neueingliederung, auf eine zuverlässige Versorgung der Kinder, auf Schwangerschaftsabbruch, auf menschenwürdige Versorgung im Alter, auf Wohnung und Mieterschutz etc. Das heißt das Recht, in einer Solidargemeinschaft versorgt zu sein beziehungsweise sich selbst versorgen zu können und die Lebensgrundlagen garantiert zu sehen. Das heißt nicht, daß damit die existentielle Bedeutung dieses Rechts für alle in Frage gestellt werden soll, welches allerdings für beide deutsche Staaten immer noch nicht realisiert ist.
Aber in der herrschenden Politik ist die soziale Frage immer ein Folgeproblem von Schachzügen und Weichenstellungen männlichen Planens und Entscheidens, welches nicht unbedingt dem Geist eines sozialen Denkens entspringt. Wenn aber Frauen erst über die Erfahrung sozialer Unsicherheit dazu kommen, den offiziellen Versprechungen zu mißtrauen, dann ist es eigentlich schon zu spät.
Es geht also um mehr als um die soziale Frage - es sei denn, es gelänge, diese zum übergeordneten Postulat zu machen statt zum - unbeabsichtigten oder unbedachten Restrisiko. Und dann müßte allerdings unter der „Sozialen Frage“ mehr verstanden werden, als gewisse Minimalsicherheiten zu erhalten oder zu gewinnen, Sicherheiten, die ja allzu leicht bloße Gaben an Untertanen sind.
Es geht auch um mehr als um die „Frauenfrage“. Es wäre wohl allzu einfach gewesen, wenn mit der Politikfähigkeit der „Frauenfrage“ der tiefe Widerspruch, der in einer jahrtausendealten Männerkultur sitzt, hätte gelöst werden können. Es ist wahrlich für dieses gesellschaftliche System eine entlastende Idee, solche Widersprüche zu einer „Frauenfrage“ zu machen und diese wiederum auf den Teilbereich der sozialen Frage zu reduzieren, auf die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft oder schließlich auf bloße Bevölkerungspolitik zu verengen.
Schon der Begriff „Frauenfrage“ ist Ideologie, dient der Unkenntlichmachung von Machtverhältnissen, so als seien oder schüfen Frauen das Problem, um das es hier geht. So als seien Frauen eine Minderheit, die auf spezifische Weise, mit Hilfe spezifischer Programme von oben versorgt und befriedet werden müssen. So als sei mit solchen Programmen das Problem tendenziell gelöst oder lösbar: Als könne der Mann sich dieses vom Hals schaffen, indem er Symptome und Folgen einer weiterhin ungebrochen patriarchal orientierten Gesellschaft ausgerechnet bei denjenigen lokalisiert, die durch seine Machtausübung verdrängt und geschädigt werden.
Was die Gesellschaft der Frau antut, und was sie ihr verwehrt und erschwert, das geht den Mann etwas an - nicht nur den planenden, sondern den Mann in seiner gesamten politischen und persönlichen Identität, jeden Mann, den kleinen und den großen, den herrschenden und den nicht herrschenden. Alle ernstgemeinten Veränderungen müssen Auswirkungen haben auf Privilegien, die das Männerbündnis für sich beansprucht und verabredet. Die Verengung des Kardinalproblems - Patriarchat - auf die soziale Frage, die Frauenfrage, die Kinderfrage bewirkt, daß erstens der Mann seine historisch bewährte „Flucht in die Unbelangbarkeit“ unbehelligt fortsetzen kann, und daß zweitens die Frau sich auf die Sorge für den privaten Nahbereich beschränkt, daß sie sich weiterhin in einen Minderheitsstatus einübt, aus dem heraus sie sich - trotz aller Qualifizierung - für die „großen“ Fragen von Politik und Geschichte nicht zuständig oder nicht kompetent sieht.
Eine dieser „großen“ politischen Fragen ist zur Zeit die nationale Frage, die deutsche Frage. Ihre Diskussion ist seit Monaten beherrscht von Positionen, in deren Spektrum es keine antipatriarchale Kritik gibt. Es müßten aber Fragen auf die politische Tagesordnung kommen, die die Probleme Deutschland, Nation, Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus und die Ängste vor diesem neuen Deutschland in einen gedanklichen, einen politischen Zusammenhang bringen. Dies zu tun, muß die politische Arbeit und fachliche Anstrengung von Frauen sein. Denn der politische oder wissenschaftliche Mann, der linke oder der rechte, wird kaum ein Interesse daran haben, diesen Zusammenhang herzustellen, ihm nachzugehen und für ihn ein öffentliches Verständnis zu suchen.
Die Tatsache, daß das nationale Trauma der Linken mit den Wiedervereinigungswünschen von DDR-Bürgern kollidiert, wirft zwar eine Fülle vielleicht produktiver Fragen auf, Fragen zum Verhältnis von „Intelligenz“ und Basis, von Schriftstellern und Volk, Fragen zum fragwürdigen Inhalt des Begriffs „Fortschrittlichkeit“. Aber auch in dieser Diskussion wird niemals gefragt, wie eigentlich die Basis, das Volk, oder die sogenannten Avantgarde selbst jeweils vom Geschlechterkonflikt und seinen meist unausgesprochenen Wirkungen durchzogen sind.
Welche Basis haben eigentlich die wenigen Frauen, die das Machtmonopol des Mannes nicht hinnehmen wollen und es außerdem noch zur Ursache von Übeln machen, die um so viel weiter reichen als die, die die einzelne Frau am eigenen Leibe spüren kann? Wie ist unser Verhältnis zur Nation, die sich Vaterland nennt, wie ist unser Verhältnis zu den Brüdern, die sich für deckungsgleich mit dem Volk halten, oder zu den Schwestern, die „brüderlich mit Herz und Hand“ nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ streben? Oder zu den Linken? Einige von ihnen zitieren zwar weiterhin die Marxsche Formulierung, daß nämlich „gesellschaftliche Umwälzungen ohne das weibliche Ferment unmöglich“ seien, gleichzeitig aber verraten sie kaum das Geheimnis der Dosierung dieses Ferments. Wenn ich das Bild richtig verstehe, muß wohl gefolgert werden, daß hier an eine recht geringe Fermentmenge gedacht ist. Denn ein Teig braucht erheblich weniger Hefe, als er Teig braucht, um zu gären. Dieses Bild zeugt von einer Idealisierung des Weiblichen, die immer gleichzeitig ihre reine tiefe Diskriminierung einschließt. Unsere Fragen, unsere Forderungen, unsere Vorstellungen von Leben, Kooperation, Freiheit, Unterstützung und Solidarität müssen wir selber finden.
Die feministische Gesellschaftskritik braucht einen Überbegriff für Auschwitz und Hiroshima, für Stalin und Stasi, für Rüstungsmilliarden und Rassismus, für Energieverschwendung und Klimakatastrophe, für die Ausrottung von Arten und die Verwüstung der Erde, für Raum und für Großforschung, für das Geschäft mit Frauen und die alltägliche Gewalt. Dieser Überbegriff ist die männliche Monokultur, das historische und internationale Machtmonopol des Mannes. Gemeint ist hier nie eine biologische Zuschreibung. Gemeint ist die Tatsache, daß ein Geschlecht sich seit Jahrtausenden anmaßt, den Lauf der Geschichte in die Hand zu nehmen, und dies kann nicht gut gehen. Aufschlüsse über die Welt wurden zu Eingriffen in die Welt; Aufklärung führte weniger zu Klugheit und Vorsicht, als zur Ausleuchtung von Geheimnissen der Natur, die Ausbeutung und Selbstbereicherung perfektionieren sollte. Lebensmöglichkeiten, die weder die Menschen noch ihre nicht -menschlichen Mitbewohner schädigen und die das mittlerweile berechenbare Zerstörungspotential der lebensgefährlichen Spezies Mensch einschränken, können wohl niemals erdacht und geplant werden aus der Perspektive eines Geschlechts, und dazu noch eines, das in einer ungebrochenen Tradition der Machtausübung steht. Die Deformation des Mannes als Machtträger macht ihn zum alleinigen Wahrheitssucher untauglich.
Das bedeutet nicht, Frauen seien frei von Deformationen. Nur sind es andere Deformationen, und Frauen müssen anderes lernen und verlernen, als Männer lernen und verlernen müssen. Wir wissen noch zu wenig, inwieweit Frauen Besseres erreichen können, sofern sie für ein Bewußtsein einstehen und ein Bewußtsein weitertreiben würden, das von der Unentbehrlichkeit einer konsequenten feministischen Kritik ausgeht, von deren Berechtigung. Das Patriarchat im Kopf von Männern und Frauen als Überbegriff der deutsch-deutschen Raserei ist eine Hypothese, keine Wahrheit. Aber alle Gesellschaftstheorien und -kritiken waren bisher Hypothesen und nicht ewig geltende Wahrheit. Und die Hyptohese, auf der eine feministische Gesellschaftskritik fundiert, ist wohl die bisher am wenigsten widerlegte.
Die Nationalitätenfrage ebenso wie die Rechts-Links -Kategorien erscheinen zunehmend antiquiert, an ihnen entzünden sich nicht mehr die existentiellen Entwicklungen, die längst im Gange sind. Wenn wir überzeugt sind von den weltweiten gegenwärtigen Gefährdungen, die einem brutalen Egoismus von Nationen anzulasten sind, die sich für befugt hielten, andere zu unterwerfen oder auszurotten und alle Schwächeren zu beleidigen, wenn wir überzeugt sind vom Weltbezug aller heutigen Entscheidungen, überzeugt davon, daß es um Menschheitspolitik statt um nationale Alleingänge geht, um Fragen des Überlebens und der Überlebensmoral, dann heißt das auch, die weltweite patriarchale Aktion zu begreifen, um sie zu bekämpfen.
Die Nationen können allerdings dabei mitwirken, daß innerhalb der eigenen Grenzen ein Bewußtsein entstehen kann, da sich an die Taten der eigenen Kulturnation erinnert und deren Unrecht wirklich erfaßt.
Der heutige Nationalismus könnte in Teilen auch als ein Zurückschrecken vor der kaum noch faßbaren Globalität und Großräumigkeit einer „Einheit“ verstanden werden, auf die hin Menschen heute denken müssen und für die sie verantwortlich sind: die Welt. Dabei stößt ein einzelner Kopf schnell an die Grenzen seiner Vorstellungsfähigkeit. Das alles ist für Frauen eine Herausforderung besonderer Art. Denn Frauen bringen auf der einen Seite eine den meisten Männern kaum vorstellbare Verantwortungsfähigkeit für andere mit, auf der anderen Seite aber beschränkt diese sich auf das eigene private Umfeld. Wir kommen aber nicht darum herum, uns mit einer so groß gewordenen Welt zu befassen, für die wir zuständig sind - es sei denn, wir seien davon überzeugt, unser Überleben sei nicht mehr zu verantworten, und die Natur sei endlich von der Spezies Mensch zu erlösen. Wer diese Position nicht teilt, hat keine Wahl, muß sich mit den Kernstücken einer nicht nur kapitalistischen oder stalinistischen, sondern patriarchalen Kulturentwicklung befassen, mit ihrer Entmündigungspolitik und ihrer blinden Fortschrittsideologie, der immer wieder as Gespür für Gefahren und Gefährdungen anderer abhanden kommt.
Es sind letztlich ethische Fragen, die wir stellen müssen. Es ist die Herausforderung einer antipatriarchalen Ethik, die die Weltweite und Internationalität der Männerherrschaften anzusehen und anzuprangern sich traut. Es geht damit auch um die Kritik an einer abendländischen Gebrauchsethik, nach der jeder vor seiner Tür kehren soll, um sein privates Verhältnis zum lieben Gott oder zum eigenen Gewissen in Ordnung zu bringen. Das aber ist längst zu eng geworden. Das schließt nicht ein, was wir am allermeisten brauchen: Ein solidarisches Denken, das diejenigen einschließt, die der weibliche Nahblick normgemäß ausschließt. Gemeint ist eine politische Haltung, die eine Verbundenheit zu den anderen zum Ausdruck bringen kann, welche in einem feministischen Befreiungsdenken eingeschlossen sind, sofern dieses mehr sein soll als ein persönlicher Lebensverbesserungsversuch. Es geht um eine Haltung, die von einem Unrechtsbewußtsein getragen ist, das seine Nahrung nicht nur in unmittelbarer Anschauung findet, sondern auch in Wissen und Analyse. Diese umfaßt einen internationalen, überkulturellen Raum, nicht allein den eigenen nationalen, geographischen oder psychischen Nahraum. Überwindung eines männerzentrierten und nationenzentrierten Denkens bedeutet, die eigenen egozentrischen Vorstellungen von Mündigkeit und Freiheit zu begrenzen am Maßstab des Schadens oder der Unterlassungen, die jede auf die bloß eigene Bereicherung fixierte „Befreiung“ Anderen zumuten würde.
Wenn der 'Spiegel'-Herausgeber und Nationalist Rudolf Augstein seine jeweiligen Kontrahenten mit dem Argument zurückzuweisen versucht, dessen Position sei „moralisch“ und nicht „politisch“ und deswegen außerhalb der Realitäten, dann spiegelt das nichts als den Zerfall, die Unmoral eines Denkens, das in allem Zynismus menschliche Möglichkeiten spaltet in das schlechte Machbare und das gute Nicht -Machbare und damit ununterbrochen weiter legitimiert, daß das gerade Machbare nicht unbedingt eine gute, aber eine realistische Möglichkeit sei, daß also der Schritt und Fortschritt wichtiger sei als die Reflexion des Schrittes, die vorherige Abwägung seiner Folgen, oder auch der Rückschritt oder das Stehenbleiben und Nachdenken. Letzteres nicht zu tun, ist im eigentlichen Sinne unmenschlich. Denn die Eigentümlichkeit des Menschen, sich des eigenen Verstandes bedienen und vor- und rückwärts-, mit-, um-, nach - und vordenken und damit einhalten zu können, werden ihm zunehmend geraubt unter dem Zwang der Freiheit und dem Druck des Machbaren.
Das öffentliche Bewußtsein für die Zusammenhänge weltweiter Existenzbedrohung mit der patriarchalen Denk- und Handlungslogik ist schwach, bei Akteuren wie Nicht-Akteuren, bei Männern und bei Frauen. Den letzteren fehlt wohl weniger die Ahnung, daß die riskanten Entwicklungen der Hochzivilisation etwas mit deren männerherrschaftlichen Tradition und Gegenwart zu tun haben könnten, als vielmehr die Kraft der eigenen Analyse, der Mut, sich aus dem Konsens der flachen Übereinkünfte herauszubewegen und den Zustimmungsverlust zu riskieren. Angst vor Dissidenz ist aber wohl der schlechteste Ratgeber. Abweichungen können mehr Kraft und Inspiration verleihen als ein Leben in vorgesehenen Bahnen.
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