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Estland will sanfte Lösung Gorbatschow warnt Litauen

■ Parlament in Tallinn will mit Moskau verhandeln / Panzer rollen wieder in Wilna

Berlin (afp/taz) - Anders als die Litauer wollen die Esten ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion auf „sanfte“ Weise durchsetzen. Das neugewählte Parlament in Tallinn, der estnischen Hauptstadt, bezeichnete zwar die sowjetische Oberhoheit über Estland als „illegal“, verabschiedete jedoch einen Text, der Verhandlungen mit der Sowjetunion offenläßt. Dagegen hat sich der Konflikt zwischen Moskau und Litauen auch am Wochenende weiter verschärft, als am Sonntag in Wilna wieder sowjetische Panzer durch die Straßen rollten.

„Der Oberste Sowjet Estlands erklärt, daß die Besetzung durch die sowjetische Armee vom 17.Juni 1940 nicht rechtmäßig war“, heißt es in der Resolution von Tallinn, die mit 65 Stimmen bei vier Gegenstimmen und fünf Enthaltungen angenommen wurde - die dreißig russischstämmigen Delegierten nahmen an der Abstimmung nicht teil. Doch gegenwärtig vollziehe sich der „Anfang des Prozesses der Wiederherstellung der Republik“, heißt es in dem Text, in dem eine „Übergangsphase“ für die Erlangung der völligen Unabhängigkeit von bis zu drei Jahren offengehalten ist. Damit hat das estnische Parlament eine Situation geschaffen, die den Interessen Gorbatschows entgegenkommt, der das Ausscheiden von einzelnen Republiken aus der Sowjetunion nur im Rahmen der Sowjetverfassung und in einem Zeitraum von fünf Jahren ermöglichen will.

Konsequenterweise bezeichnete der sowjetische Präsident am Samstag die Unabhängigkeitserklärung des litauischen Obersten Sowjet als „illegalen Akt“, der „zurückgenommen werden müsse“. Er forderte die litauische Bevölkerung dazu auf, von diesem „unheilvollen Weg“ abzukehren und auf seine Vorstellungen einzschwenken. Fortsetzung auf Seite 2

Denn es gebe, so der Präsident, auch Stimmen, die „wirksame Maßnahmen“ gegen die Unabhängkeitsbestrebungen vorschlügen.

Litauens Präsident Landsbergis zeigte sich vom drohenden Unterton Gorbatschows überrascht, signalisierte aber trotz der erneuten Truppenbewegungen in Vilnius Verhandlungsbereitschaft. „Wir haben mehrmals Verhandlungen angeboten, aber unsere ausgestreckte Hand wird zurückgewiesen.“

Dagegen hat das Verschwinden des Chefs der litauischen KP, Algirdas

Brazauskas, erhebliche Unruhe in der Bevölkerung ausgelöst. Der Parteireformer war am Freitag von sowjetischen Sicherheitskräften aus dem Parteigebäude geleitet worden und ist seither nicht gesehen worden.

In Kiew und anderen Städten der Ukraine sowie in Moskau demonstrierten nur einige tausend Menschen für die Moskauer Litauen-Politik.

Dagegen folgten in Riga am Freitag nachmittag 20.000 Menschen dem Aufruf einer Frauengruppe für Kriegsdienstverweigerung. 1.200 junge Männer sollen nach der Veranstaltung ihren Wehrpaß zurückgegeben haben.

Auch in Berlin (Ost) kam es am Sonntag zu einer Solidaritätsdemonstration für Litauen.

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