: Wahlbetrüger und Rechnungsprüfer
Zur Debatte um den Umtauschkurs bei der Währungsunion ■ K O M M E N T A R E
Am 20.Februar machte Bundeskanzler Kohl eine Liebeserklärung. Auf dem Erfurter Marktplatz wandte er sich exklusiv den Siebzigjährigen zu, die „einen großen Teil der Geschichte unseres Vaterlands“ erlebt hätten und noch zudem vierzig Jahre unter dem sozialistischen System leiden mußten. Sie verdienen „unseren Respekt, mehr noch: unsere Liebe und Zuneigung“. Konnte man erwarten, daß der DDR -Wähler mißtrauisch wird, wenn der Wahlkämpfer Liebe und Zuneigung verspricht? Mußte der DDR-Wähler wissen, daß derjenige, der Liebe verspricht, hart rechnen wird? Oder: Konnte und mußte Kohl davon ausgehen, daß der DDR-Wähler genau das nicht wissen wollte, nicht wissen konnte? Die letzte Frage kann bejaht werden, ist genaugenommen rhetorisch. In der Tat wirkt Kohl wie der ertappte Sünder, nachdem er vage für einen Währungsunionskurs 2:1 optiert hat. Wahlbetrüger Kohl? Oder gilt auch für Kohl der Satz von Karl Kraus, daß man vor allem wegen der nicht begangenen Sünden errötet?
Tatsächlich hat Kohl im Wahlkampf nie einen 1:1 Umrechnungskurs, sondern nur das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Er hat sich ebenso gradlinig wie rücksichtslos zum alleinigen Adressaten aller Hoffnungen der DDR-Bürger gemacht. Wenn jetzt Lafontaine ihn als Wahlbetrüger entlarvt, spielt er genauso demagogisch mit den existentiellen Enttäuschungen der DDRler, wie Kohl vorher mit deren gleichermaßen existentiellen Träumen deutsch -deutscher Gleichberechtigung gespielt hat. Lafontaine wirft Kohl ja nicht nur Brüskierung der DDR-Erwartungen vor, sondern zugleich den Realismus, den er - Lafontaine - immer gepredigt habe. Kohls Wahlbetrug ist nach Lafontaine, daß Kohl nach der Wahl das tut, was Lafontaine schon vor der Wahl propagiert hat. Ob diese Wahlkampfstrategie, diese Mischung von Entlarvung und Rechthaberei, aufgehen wird, darf man füglich bezweifeln.
Daß Kohl jetzt anfängt, die Rechnungen offenzulegen, ist ihm nicht vorzuwerfen. Der Zynismus begann früher: Es war die Demagogie mit den Übersiedlerströmen; es war die Unterwerfung der Politik unter den Wahlkampf. Allein Wahltaktik war es, die Währungsunion dem komplizierten Prozeß der deutschen Einigung voranzustellen. Er hat sich und das ist durchaus das persönliche Verdienst des Kanzlers
-die Epochenwende zum Projekt seiner Machterhaltung gemacht: die deutsche Vereinigung hätte - nach der Verfassung, nach der demokratischen Revolution - die Stunde der Volksversammlungen, der Konstituante sein müssen. Es ist zur Stunde der Bonner Exekutive geworden. Die deutsche Vereinigung ist nicht länger mehr ein politisches Ziel, um das gestritten werden darf; es ist die Stunde der gesamtdeutschen Lobbyisten, der Etablierten der Bundesrepublik und der selbsternannten für die DDR -Bevölkerung. Die deutsche Vereinigung hat bestenfalls den geistigen Horizont der Krankenkassenreform, und dieser Horizont wird auch dann nicht erweitert, wenn Lafontaine sich zum Rechnungsprüfer der gesamtdeutschen Nation aufwirft.
Kohl wird seinen „Wahlbetrug“ überleben, selbst wenn die Ost-CDU für ihn vom DDR-Wähler in den Kommunalwahlen bestraft wird. Mit dem Bundesbank-Vorschlag 2:1 ist schlicht die Debatte über die Kosten der Einigung eröffnet worden, die vor dem 18.März von Kohl erfolgreich unterdrückt werden konnte. Schon vor der Wahl, genau vier Tage vor dem Termin, gab der Kanzler den genau Hinhörenden kund, daß der Prozeß der Vereinigung langsamer, in Etappen gehen wird. Seine Ministerialen hatten ihm längst klargemacht, daß sich die DDR nicht wie eine Immobilie kaufen läßt. Das hätte schließlich bedeutet, daß der bundesdeutsche Steuerzahler praktisch den DDR-Haushalt finanzieren muß. Im übrigen wird sich Lafontaine verspekulieren, wenn er unterstellt, daß die erste Phase der Vereinigung nur durch Steuererhöhungen zu finanzieren ist. 20 Milliarden DM mehr an Steuereinnahmen reichen als Budget für das erste Jahr der Vereinigung durchaus. Kohls Erfolg entspringt seiner spezifischen Qualität: Er betreibt Politik als Personalpolitik und Dauerwahlkampf. Bevor man sich blind macht vor Verzweiflung darüber, daß Instinktsicherheit die historische Chance verspielt, sollte man sich klar werden, daß ein Kohl nur mit wirklichen politischen Alternativen besiegt werden kann. Außerdem: In seiner instinktsicheren Vernunft ist Kohl noch immer mehr Werkzeug der List der Vernunft als alles andere, was die deutsche Politik gegenwärtig zu bieten hat. Er verordnet der DDR-Bevölkerung einen Schnellkurs in Sachen Kapitalismus und Parteien-Demokratie. Er zwingt die siegreiche DDR-CDU, die ihm das glaubte, was er nicht versprach, nun a tempo die DDR-Interessen zu artikulieren, eine DDR-spezifische Verhandlungsposition zu erarbeiten, auf die sie vorher verzichten konnte. Vielleicht wird Kohl in der DDR gar das Synonym für alles, was man nicht will? Sicher ist: Nicht die Linke hüben und drüben, sondern Kohl allein könnte es schaffen, daß man dort schneller zur Vernunft als zum Anschluß kommt.
Klaus Hartung
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